„Another Brick in the Wall“?

Manchmal braucht es Schüler:innen, um die eigene Rolle zu hinterfragen

Schulkonzerte sind etwas Schönes. Sie bedeuten im Vorfeld zwar unglaublich viel Arbeit – Proben organisieren, Stimmen einstudieren, Technik koordinieren, Nerven behalten. Und doch weiß man an dem Abend, wenn man in die erfüllten, glücklichen und stolzen Gesichter der Schüler:innen blickt: Es hat sich gelohnt.

Und dann tritt die Abiband auf: Eine selbstformierte Gruppe von Schüler:innen, die am selben Morgen ihr Abiturzeugnis erhalten haben. Der Frontsänger kündigt an, dass sie das heutige Konzert als ihren persönlichen Abschluss an unserer Schule sehen – und sich mit dem folgenden Song bei den Lehrkräften revanchieren möchten. Dann spielen sie: „Another Brick in the Wall“ von Pink Floyd.

Der Song ist musikalisch stark umgesetzt. Kein Wunder also, dass das Publikum und meine Kolleg:innen den Auftritt mit bester Laune und sichtlichem Stolz würdigen.

Quelle: YouTube (URL: Pink Floyd Another Brick In The Wall (HQ) – YouTube)

Doch halt!

Der Frontsänger sprach von „Revanchieren“. Für was? Und warum jetzt?

In dem Song lehnen sich Schüler:innen gegen ihre Lehrkräfte auf – gegen ein System, das sie als kalt, zynisch und kontrollierend empfinden. Lehrkräfte, die mit Sarkasmus und Druck versuchen, junge Menschen in eine Welt der Unfreiheit und Angst zu zwingen.

Ich saß da und stellte mir zwangsläufig die Frage, ob die Abiturient:innen ihre Lehrer:innen wirklich als kalt, zynisch und kontrollierend empfunden haben. Und dann steht dort auch ein Schüler, den ich selbst unterrichtet habe. Und so muss ich mir auch die Frage stellen: Meint er mich?

Tausend Fragen und Gedanken schießen mir in diesem Moment durch den Kopf: Warum ist es mir – trotz aller Bemühungen – nicht gelungen, die Schüler:innen individueller zu fördern? Ich dachte eigentlich, dass wir eine gute Unterrichtsatmosphäre gehabt hätten. War meine Leistungsbewertung wirklich unfair? Warum scheinen meine Schüler:innen nicht gerne zu mir in den Unterricht gekommen zu sein? Kamen sie nur, weil sie mussten? Weil sie sonst schlechte Noten bekommen hätten? Weil sie Angst vor mir hatten?

Ich merkte, wie ich der Band immer wieder zuhörte und in meiner Gedankenwelt aus Fragen, Vorwürfen und Selbstzweifeln versank.

In dieser Unsicherheit suchte ich Blickkontakt zu meinen Kolleg:innen. Doch was ich sah, irritierte mich fast noch mehr: Warum nickten meine Kolleg:innen im Takt, als sei das alles ein harmloser Spaß? Warum merkten sie nicht, dass sie gerade kritisiert werden? Trifft sie der Vorwurf der Schüler:innen nicht? Sind sie sicher, dass sie nicht gemeint sein können?

Vielleicht taten sie es, weil sie spürten, dass die Schüler:innen hier ihre Stimme gefunden haben. Vielleicht taten sie es, weil sie die Kritik anerkannten. Vielleicht taten sie es aber auch, weil sie sie nicht hören wollten.

Solche Momente machen mich nachdenklich. Sie rütteln an meinem Berufsbild. Und manchmal ärgern sie mich auch – weil ich das Gefühl bekomme, dass viele Schüler:innen gar nicht sehen, wie sehr man selbst mit dem System hadert und ringt und wie viel Engagement über die reine „Dienstpflicht“ hinaus nötig ist, um die engen Grenzen und Mauern des Systems zu weiten und den Schüler:innen wertvolle Erfahrungen zu ermöglichen.

Quelle: Microsoft Copilot

Vermutlich haben die Schüler:innen mit ihrem Songbeitrag recht:

Das Schulsystem ist eine alte, ehrwürdige Mauer – und zwar aus Granit. Sie hat bereits mehrere hundert Jahre überdauert und ist in dieser Zeit dicht und undurchlässig geworden. Und so könnte sie auch weitere hundert Jahre stabil bestehen. Und als Lehrkraft bin ich ein Stein in dieser Mauer – ob ich das will oder nicht.

Aber wenn diese Mauer aus Granit besteht, dann möchte ich wenigstens ein Ziegel aus Kalkstein sein:

porös, atmend, durchlässig.

Wenn wir es schafften, uns selbst als formbaren Kalkstein zu begreifen – als Material, das sich im Laufe der Zeit verändert, das mit seiner Umwelt verwächst und sie nicht kalt und glatt wie Granit abweist –, dann könnten wir Schule von innen heraus verändern. Stein für Stein.

Yes, I’m (just) „Another Brick in the Wall“.

Ich bin ein Stein dieser Mauer. Und das werde ich in diesem Berufsleben wohl nicht ändern können. Aber ich kann für mich entscheiden, welcher Stein ich bin: Bin ich Granit – oder bin ich Kalkstein? Wenn schon ein Stein in der Mauer – dann einer, der atmet, porös und durchlässig ist, der sich zu seiner Umwelt außerhalb der Mauer öffnet und Öffnungen schafft und dadurch die Mauer instabil werden lässt und vielleicht irgendwann zum Einsturz bringt.

Inzwischen ist mir bewusst, dass die Schüler:innen nicht mich persönlich gemeint haben. Sie haben das System gemeint, für das ich in gewisser Weise stellvertretend stehe. Durch ihr Abitur ist es ihnen gelungen, der Mauer aus Granit zu entkommen. Deswegen können sie auch bei diesem Schulkonzert von außen gegen die Mauer treten und ein Stück von ihr zum Einsturz bringen. Hätten sie das zuvor gewagt, als sie noch von der Mauer umringt waren, wären sie Gefahr gelaufen, dass Teile der Mauer auf sie hinunterfallen und sie verletzen.

Ich bin froh, dass die Schüler:innen den Mut gehabt haben, diesen Song zu singen und ich danke ihnen sehr für diesen Impuls. Und vielleicht haben sich meine Kolleg:innen an diesem Abend ähnliche Gedanken gemacht wie ich.

Vielleicht sind in der Mauer längst andere Kalksteinziegel verbaut.

Vielleicht sind wir mehr, als ich denke.

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