Autor: admin

  • Tagging als Schulentwicklungsstrategie

    Wie man vorhandene Kulturelle Bildung sichtbar und Unbeteiligte zu Akteur:innen macht

    Seit fast drei Jahren versuche ich täglich, meine Schule auf den Weg der Kulturellen Bildung zu bringen und sie zu einer KulturSchule zu machen. Das ist aber nicht so leicht, denn immer wieder stoße ich mit meiner Idee, Kulturelle Bildung als Schulentwicklungsimpuls zu denken, auf Beschwichtigung oder leise Ablehnung.

    Fast wären diese Haltungen für mich nachvollziehbar, wenn man sich das Profil der Schule ansieht:

    • Schule mit Schwerpunkt Musik
    • IB World School mit dem International Baccalaureate Diploma Programme
    • Fremdsprachenvielfalt (Französisch, Latein, Japanisch, Russisch) mit Schwerpunkt Englisch und Bilingualem Unterricht
    • Austauschprogramme (Indien, UK, Frankreich, Japan)
    • Schullandheim
    • Soziales Lernen
    • Medienbildung
    • Umweltschule
    • Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage
    • Begabtenförderung

    Und kultur.forscher!“-Schule sind wir auch. Doch leider wird auch dieser Profilbaustein von vielen nur als Plakette im Schulflur wahrgenommen. Was aus der Netzwerkteilnahme konkret entsteht, bleibt oft unsichtbar. Die kulturelle Bildung wirkt – aber sie wird nicht als solche erkannt.

    Und so entsteht durch diese Vielfalt eine gewisse Profilmüdigkeit: Die Sorge wächst, dass das eigentliche Profil der Schule im Wust der Angebote verloren geht und Diversität zu Beliebigkeit wird – wir uns als Schulgemeinde verlieren, weil jede:r in eine andere Richtung läuft.

    EIN KLEINER MOMENT MIT GROSSER WIRKUNG

    Beim Seminar zur kulturellen Schulentwicklung in Wolfenbüttel hielt Axel Watzke von der Berliner Agentur anschlaege.de einen Vortrag mit dem schönen Titel „Regelmäßiger Unsinn hat normative Kräfte“ und berichtete dabei über eine seiner Aktionen: Mit einer Supermarktetikettiermaschine zog er durch Hamburg und versah Passant:innen mit dem Logo von Kampnagel – einem renommierten Produktionshaus für zeitgenössische darstellende Künste. Eine subversive Geste, ein performativer Eingriff in den öffentlichen Raum. Kultur wurde nicht beworben, sondern verliehen. Nicht durch Teilnahme, sondern durch Tagging. Auf einmal gehörte jede:r Passant:in zu Kampnagel.

    Das hat sich mir eingebrannt. Denn sie berührt einen Punkt, der mich in meiner schulischen Praxis beschäftigt: 

    Wie kann kulturelle Schulentwicklung gelingen, wenn die Schule bereits ein reichhaltiges Profil hat? 

    Wenn es scheinbar keinen Platz mehr für „noch ein weiteres Projekt“ gibt? Wenn kulturelle Bildung als zusätzlicher Baustein und sogar als Belastung wahrgenommen wird? Wenn Kolleg:innen sich nicht auf Neues einlassen wollen? Wenn Kulturelle Bildung als optionales Angebot verstanden wird, das man aus arbeitsökonomischen Gründen auch ablehnen kann? Meine Antwort: 

    Wir müssen nicht mehr tun. Wir müssen teilweise noch nicht mal was anders tun. Wir müssen nur anders hinschauen.

    KULTURELLE BILDUNG ALS CONTAINERBEGRIFF – (M)EINE CHANCE FÜR EINE KULTURELLE SCHULENTWICKLUNG

    Der Begriff „Kulturelle Bildung“ ist ein sogenannter Containerbegriff – weit, offen, vieldeutig. Er umfasst ästhetische Praxis ebenso wie kulturelle Teilhabe, kreative Gestaltung ebenso wie gesellschaftliche Reflexion. Diese begriffliche Offenheit wird oft als Herausforderung gesehen, doch in meinem Entwicklungsvorhaben ist sie eine Stärke: Denn gerade weil Kulturelle Bildung nicht auf eine bestimmte Methode, ein bestimmtes Fach oder eine bestimmte Zielgruppe festgelegt ist, kann ich sie als verbindendes Label nutzen:

    • für Projekte im Musikunterricht ebenso wie für Peer-Education-Initiativen,
    • für Mediengestaltung ebenso wie für interkulturelle Begegnungen,
    • für forschendes Lernen ebenso wie für performative Formate.

    Das Tag Kulturelle Bildung erlaubt es, Vielfalt zu bündeln, ohne sie zu vereinheitlichen. Es schafft einen gemeinsamen Rahmen, ohne die Eigenständigkeit der einzelnen Aktivitäten zu beschneiden. So wird aus einem Containerbegriff ein Gestaltungsbegriff – und aus einem Etikett ein Entwicklungsmotor. Und zugleich hilft es Kolleg:innen und Schüler:innen zu erkennen, was Kulturelle Bildung ist und sein kann und sich ein Bild davon zu machen.

    KULTURELLE BILDUNG IST KEIN WEITERER BAUSTEIN – SIE IST DAS MYZEL IM WURZELRAUM DER SCHULE

    Das heißt: Kulturelle Bildung ist nicht ein weiterer Baustein im Schulprofil. Sie ist das unterirdische Myzel, das die vielen Wurzelstränge unserer Schule miteinander verbindet. Wenn die Werte und Überzeugungen die tiefen Wurzeln unserer schulischen Identität bilden, dann sind die einzelnen Angebote – Musik, Sprachen, Soziales, Naturwissenschaften, Austauschprogramme, Umweltbildung, Kultur.Forscher!, Medienbildung – die Wurzelstränge, die sich in verschiedene Richtungen ausbreiten.

    Doch zurzeit wachsen diese Stränge oft isoliert nebeneinanderher, manchmal sogar gegeneinander. Was fehlt, ist ein verbindendes, nährendes Netzwerk – ein Myzel, das den Austausch ermöglicht, Ressourcen verteilt und die Wurzeln in Beziehung zueinander setzt. Kulturelle Bildung kann genau dieses Myzel sei, das Verbindungen schafft, gegenseitiges Verständnis fördert und die Schule als lebendiges Ökosystem gedeihen lässt.

    Das Beste daran: Keine Wurzel muss gekappt oder umgepflanzt werden. Die Vielfalt bleibt erhalten – wird aber nicht mehr als (konkurrierende) Beliebigkeit wahrgenommen, sondern als vernetztes Ganzes, das gemeinsam trägt und wächst.

    TAGGING ALS STRATEGIE DER KULTURELLEN SCHULENTWICKLUNG

    Hier setzt meine Idee an: Tagging als subtile, aber wirksame Form der Schulentwicklung. So wie Axel Watzke mit seiner Etikettiermaschine Kultur im Stadtraum sichtbar gemacht und zuvor unbeteiligte Passant:innen in Akteur:innen verwandelt hat, können wir mit einem gemeinsamen Label – einem Tag – Kulturelle Bildung im schulischen Raum sichtbar machen. Tagging bedeutet in diesem Zusammenhang: Wir versehen bestehende Aktivitäten mit dem Label Kulturelle Bildung. Nicht als kosmetische Maßnahme, sondern als Akt der Anerkennung und Kontextualisierung. Wir machen sichtbar, was ohnehin schon da ist – und schaffen dadurch ein neues Bewusstsein für das kulturelle Potenzial unserer Schule. Die zuvor isolierten Aktivitäten, Aktionen und Maßnahmen erhalten einen gemeinsamen Bedeutungsrahmen. Framing wird so zum Werkzeug: Es verbindet, wertet auf und macht Zusammenhänge erfahrbar. Tagging ist damit eine niedrigschwellige Form der Schulentwicklung. Es erfordert keine neuen Ressourcen, keine strukturellen Umstellungen, kein anderes Verhalten – sondern lediglich einen Perspektivwechsel. Es schafft Sichtbarkeit und Anerkennung, ohne zu überfordern. Und es gibt uns einen Begriff, mit dem wir das, was wir tun, begreifen können.

    Tag, das (Substantiv, Neutrum)

    • Markierungselement von Beschreibungssprachen (z. B. HTML) zur Strukturierung der Dokumente
    • [Geheim]zeichen eines Graffitikünstlers, einer Graffitikünstlerin
    Quelle: duden.de

    Gleichzeitig macht Tagging unsere Arbeit anschlussfähig – an Förderprogramme, Netzwerke, Diskurse. Es erlaubt uns, Kulturelle Bildung als Querschnittsthema zu denken, das sich durch viele Bereiche zieht: Unterricht, Projekte, Kooperationen, Schulkultur.

    Und das – leider oder zum Glück – vielleicht wirkungsvollste Argument: Die Kolleg:innen müssen im Grunde nichts anders machen als vorher. Sie müssen nichts umstellen, sich auf nichts Neues einlassen. Genau das sind oft die Sorgen, die Schulentwicklung lähmen und über Jahrzehnte hinweg verzögern. Doch hier liegt die Stärke des Taggings: Der Unterricht bleibt (erstmal) derselbe – aber er bekommt einen neuen Rahmen, einen kulturellen Mehrwert. Die Kolleg:innen müssten dafür nicht einmal ihr Bewusstsein verändern. Es reicht zuzulassen, dass ihr Unterricht diesen „Nebeneffekt“ hat. Und dieser Nebeneffekt wertet ihren Unterricht auf. Ich bin überzeugt: Wenn ausreichend Etiketten verteilt wurden, lässt sich das Thema nicht mehr ignorieren. Es wird sich – heimlich, still und leise – in den Berufsalltag einschleichen, ohne dass man es aktiv bemerkt hätte. Ohne dass man etwas verändern musste.

    THEMEN KAPERN UND (RE-)FRAMEN

    Indem bestehende schulische Aktivitäten unter dem Label der Kulturellen Bildung sichtbar gemacht werden, erhalten sie einen neuen Bedeutungsrahmen. So lassen sich auch bereits etablierte Themen gezielt „kapern“ (auch ein Begriff, den Axel Watzke in diesem Zusammenhang erwähnt hat) und die ästhetisch-kulturelle Komponente hervorheben. Dieses Framing verändert die Wahrnehmung: Ein Projekt wird nicht nur als fachliche Leistung verstanden, sondern als Ausdruck kultureller Teilhabe und kreativer Selbstwirksamkeit.

    Tagging wird damit zu einem wirkungsvollen Werkzeug der Schulentwicklung: Es schafft Anerkennung, setzt Impulse, stiftet Verbindungen und verortet pädagogisches Handeln in einem erweiterten kulturellen Horizont. Und genau darin liegt ein großes Potenzial – denn mithilfe des „Frames“ Kulturelle Bildung könnten auch andere Aktivitäten und Profilbausteine unserer Schule in einen gemeinsamen Zusammenhang bzw. „Rahmen“ gebracht werden. So entstünde ein harmonisches Ganzes, das die Vielfalt unserer Schule nicht nivelliert, sondern als Stärke hervorhebt und sichtbar macht.

    Denn manchmal braucht Schulentwicklung keine großen Reformen. Manchmal muss man sie nur begreifen können und verstehen, was man aus dem eigenen Selbstverständnis heraus schon längst tut und in einem vielfältigen Angebot Gemeinsamkeiten und Verbindungen zu erkennen. Und dafür braucht man einen Begriff – oder ein Tag: Kulturelle Bildung.

    AUS DER PRAXIS – SICHTBARKEIT FÜR KULTURELLES ENGAGEMENT IM UNTERRICHT UND DARÜBER HINAUS

    Der Kompetenznachweis Kultur (KNK) der Bundesvereinigung für Kulturelle Kinder- und Jugendbildung (BKJ)

    Im Rahmen des WU-Kurses Darstellendes Spiel in der Jahrgangsstufe 10 entstand ein Kurzfilmprojekt zum Thema M/Faking City Life – Szenen einer Großstadt. Die Schüler:innen hatten zu Beginn des Kurses die Möglichkeit, ihr Interesse am Kompetenznachweis Kultur (KNK) anzumelden – einer Auszeichnung für besonderes kulturelles Engagement. Von da an führten sie ein Projekttagebuch, in dem sie die Prozesse und Produkte ihres kreativen Arbeitens dokumentierten und reflektierten. In mehreren Zwischen- und einem abschließenden Gespräch haben wir gemeinsam auf Basis dieser Tagebücher ihre individuellen Leistungen besprochen. Anschließend konnte ich als zertifizierter Kompetenzberater Kultur den KNK ausstellen. Die feierliche Verleihung erfolgte durch die jeweilige Klassenlehrkraft im Rahmen der Zeugnisübergabe – ein Moment, der nicht nur die Leistung der Schüler:innen würdigte, sondern auch bei bislang unbeteiligten Gruppen Interesse am Verfahren weckte.

    Auch im IB Diploma Programme konnte der KNK erfolgreich eingebunden werden. Im Rahmen des verpflichtenden CAS-Kurses (Creativity, Activity, Service) entwickeln die Schüler:innen eigenständig Projekte, die der Schulgemeinschaft zugutekommen. In Absprache mit der betreuenden Lehrkraft – zugleich Mitglied der erweiterten Schulleitung – konnte ich den KNK auch hier vergeben. Die Kollegin war zunächst entlastet, zeigte aber im Anschluss großes Interesse am Verfahren. Zugleich ist es dadurch gelungen, an einen der wesentlichen und zentralen Profilschwerpunkte unserer Schule anzudocken und ihn ein Stück weit zu „kapern“. Gemeinsam überlegen wir nun, wie noch mehr Schüler:innen zu bestimmten Zeitpunkten ihrer Schullaufbahn vom KNK profitieren können – etwa bei Bewerbungen für Praktika oder Stipendien, wo der Nachweis kultureller Kompetenzen zunehmend an Bedeutung gewinnt.

    Die KultUrKunde meiner Schule

    Mit der KultUrKunde haben wir ein eigenes Zertifikat geschaffen, das kulturelles Engagement von Schüler:innen sichtbar macht und würdigt – jenseits von Noten und klassischen Leistungsnachweisen. Der Name ist bewusst doppeldeutig gewählt: Er spielt mit „KulturKunde“ im Sinne von Wissen und Bildung, und mit „KultUrkunde“ als offizieller Auszeichnung. Die KultUrKunde wird im Rahmen unserer kultur.Forscher!-Aktivitäten verliehen und dokumentiert individuelle Beiträge zu ästhetisch-kreativen Projekten, sei es im Unterricht, in Kooperationen oder in schulischen Initiativen.

    Ein besonders eindrucksvolles Beispiel für die Anwendung war das Kooperationsprojekt mit der Alten Oper Frankfurt und dem Deutschen Filmmuseum. Drei Klassen unserer Schule setzten sich mit der Frage auseinander, wie Musik filmisch interpretiert werden kann. Nach mehreren Workshops entstand ein Kurzfilm, der schließlich im Saal der Alten Oper aufgeführt wurde – begleitet von live gespielter Musik. Für die beteiligten Schüler:innen war das eine intensive ästhetische Erfahrung, die weit über den regulären Unterricht hinausging. Im Anschluss konnte ich fast 100 Schüler:innen die KultUrKunde überreichen – als Zeichen der Anerkennung für ihr kreatives Engagement und als Dokumentation ihrer kulturellen Teilhabe.

    Die KultUrKunde ist damit nicht nur ein Instrument der Würdigung, sondern auch ein Mittel der Schulentwicklung: Sie macht sichtbar, was ohnehin schon da ist, vernetzt es unter einem gemeinsamen Begriff und stärkt das kulturelle Profil unserer Schule – leise, aber wirkungsvoll.

    TAGGING ALS EINSTIEGSIMPULS – ABER NICHT ALS ENDPUNKT

    Eine erfolgreiche Tagging-Aktion könnte genau das bewirken:

    • Ein neues Bewusstsein im Kollegium, dass kulturelle Bildung nicht zusätzlich ist, sondern bereits wirkt – und dass sie helfen kann, das Profil zu ordnen, zu bündeln, zu beleben.
    • Eine neue Sprache für Schüler:innen, die ihr Engagement als Teil kultureller Praxis erkennen und wertschätzen lernen.
    • Eine neue Sichtbarkeit für das kultur.Forscher!–Netzwerk, das nicht nur Plakette, sondern Prozess ist – ein Raum für ästhetische Forschung, für Fragen, für Gestaltung.

    So wirksam und niedrigschwellig das Tagging als erste Strategie kultureller Schulentwicklung auch ist – es darf nicht als Endpunkt verstanden werden. Denn im eigentlichen Sinne handelt es sich dabei noch nicht um eine (Schul-)Entwicklung, also um eine Bewegung, die etwas verändert oder voranbringt. Tagging ist vielmehr ein transformatorischer Akt: Es verändert die Wahrnehmung, rahmt Bestehendes neu und schafft einen Bedeutungszusammenhang, der zuvor nicht sichtbar war. Doch damit beginnt erst der eigentliche Prozess. Echte Schulentwicklung setzt dort an, wo aus dieser neuen Sichtweise auch neue Formen des Handelns entstehen. Wenn Kolleg:innen beginnen, ihre Praxis nicht nur als kulturell anschlussfähig zu erkennen, sondern sie auch bewusst weiterzudenken – im Austausch mit anderen, in der Öffnung nach außen, in der Gestaltung neuer Formate und Kooperationen; wo kulturelle Bildung nicht nur etikettiert, sondern gelebt wird.

    Tagging kann dabei als Katalysator wirken: Es schafft ein gemeinsames Vokabular, eine geteilte Orientierung, eine Grundlage für kollektive Weiterentwicklung.

    Kulturelle Schulentwicklung ist also kein statisches Etikett, sondern ein dynamischer Prozess, der sich aus dem Inneren der Schule heraus entfaltet. Sie lebt von der Bereitschaft, Bestehendes nicht nur zu würdigen, sondern auch weiterzuentwickeln – organisch, kontextsensibel und im Dialog mit den Menschen, die Schule gestalten. Tagging ist der erste Schritt auf diesem Weg. Es macht sichtbar, was da ist – und öffnet den Raum für das, was noch entstehen kann.

    WAS WÄRE, WENN…?

    • Was wäre, wenn wir beginnen würden, unsere Schule nicht mehr nur über ihre Angebote zu definieren, sondern über das, was diese Angebote miteinander verbindet?
    • Was wäre, wenn das Tag Kulturelle Bildung nicht als weiterer Aufkleber im Schulflur verstanden würde, sondern als ein Zeichen der Selbstvergewisserung?
    • Wie sähe ein Schulalltag aus, in dem kulturelle Bildung nicht gesucht, sondern gefunden wird?
    • Wie sähe ein Kollegium aus, das sich gegenseitig taggt – nicht mit Etiketten, sondern mit Anerkennung?
    • Wie sähe eine Schule aus, die sich nicht als Baukasten versteht, sondern als lebendiger Organismus?
    • Was wäre, wenn die schulischen Angebote nicht als konkurrierende Einzelinitiativen wahrgenommen würden, sondern als die sichtbar aus dem Boden der Schulgemeinschaft sprießenden Fruchtkörper eines unsichtbar vernetzenden Pilzmyzels – der Kulturellen Bildung?

    VIELLEICHT…!

    • Vielleicht würden Kolleg:innen beginnen, ihre Projekte nicht mehr als isolierte Vorhaben zu sehen, sondern als Teil eines größeren kulturellen Zusammenhangs.
    • Vielleicht würden Schüler:innen erkennen, dass ihr Engagement in Musik, Theater, Medien oder sozialen Projekten nicht nur „AG“ oder „WU-Kurs“ ist, sondern Ausdruck kultureller Teilhabe.
    • Vielleicht würde die Plakette kultur.Forscher-Schule nicht mehr als Dekoration im Flur hängen, sondern als Einladung verstanden werden – zum Forschen, Gestalten, Wachsen.
    • Vielleicht würde unsere Schule beginnen, sich selbst neu zu sehen: nicht als überfrachtetes Profilgebäude, sondern als lebendiger Baum mit starken Wurzeln, vielfältigen Fruchtkörpern und einem Myzel aus Kultureller Bildung, das alles verbindet und zum Erblühen bringt.
    • Vielleicht würde sich unsere Schule nach einer solchen Aktion nicht verändert, sondern erkannt fühlen. Nicht überfrachtet, sondern verbunden. Nicht orientierungslos, sondern verwurzelt. Vielleicht würde sie sich selbst besser kennenlernen – und mit einem gestärkten, im Bewusstsein aller verankerten klaren Selbstverständnis zukunftsfähig werden.

    Also: LET’S TAG!

  • Je höher der Leuchtturm, desto größer sein Schatten

    KulturSchule als Leuchtturmprojekt: ein Ort der Orientierung, Inspiration, Strahlkraft und Sichtbarkeit – mit Schattenseiten

    Eines vorab!

    Bevor ich kritische Blicke auf das Schulentwicklungsprogramm KulturSchule richte, möchte ich meine persönliche Haltung dazu klären: Ich bin begeistert von der Idee der KulturSchule. Es ist mein Wunsch, meine Schule auf diesem Weg weiterzuentwickeln – denn ich bin überzeugt, dass dies sowohl für die Schüler:innen als auch für die Kolleg:innen ein bedeutender und richtiger Schritt wäre.

    Ein erster Meilenstein ist bereits erreicht: Meine Schule ist Teil des Kultur.Forscher!–Netzwerks. Doch für mich ist das nur der Anfang. Ich arbeite täglich daran, diesen Weg weiterzugehen.

    Dabei stoße ich immer wieder auf Hürden: Befindlichkeiten, Vorbehalte, Ressentiments und Abwehrhaltungen. Ich gestehe, dass es mir schwerfällt, dafür Verständnis aufzubringen. In diesem Beitrag möchte ich bewusst die Perspektive wechseln und kritische Blicke auf das über die Landesgrenzen hinaus erfolgreiche Programm KulturSchule werfen und dadurch versuchen, mich selbst für die Gegenseite anschluss- und diskursfähiger zu machen – in der Hoffnung, dadurch andere in ihren Vorbehalten zu verstehen und von meinem Anliegen überzeugen zu können.

    Interview zwischen André Hatting und Thomas Langenfeld anlässlich des 15-jährigen Bestehens der KulturSchule Hessen.
    Quelle: 15 Jahre „Kulturschule“ in Hessen – Wie Kinder weltweit von kultureller Bildung profitieren

    KulturSchule Hessen – Wenn Schule zum kulturellen Erfahrungsraum wird

    Was wäre, wenn Schule nicht nur ein Ort der Wissensvermittlung, sondern auch ein Raum für ästhetische Erfahrung, kreative Entfaltung und kulturelle Teilhabe wäre? Genau dieser Gedanke steht im Zentrum des hessischen Landesprogramms „KulturSchule“, das seit 2008 neue Wege in der Schulentwicklung beschreitet. Es geht dabei nicht um punktuelle Projekte oder zusätzliche Angebote, sondern um eine tiefgreifende Transformation schulischer Praxis – hin zu einer Schule, in der kulturelle Bildung als Querschnittsaufgabe verstanden und gelebt wird.

    KulturSchulen entwickeln ein eigenes kulturelles Profil, das sich in Unterricht, Schulkultur und Schulorganisation widerspiegelt. Sie schaffen Räume, in denen Schüler:innen sich künstlerisch ausdrücken, ästhetisch forschen und kulturelle Ausdrucksformen als Teil ihrer Persönlichkeitsentwicklung erleben können. Dabei geht es nicht nur um Kunst, Musik oder Theater, sondern um eine ästhetisch-kulturelle Haltung, die alle Fächer durchdringen kann – von Mathematik bis Sport, von Deutsch bis Biologie.

    Das Programm richtet sich an Schulen aller Schulformen und Schulstufen in Hessen. Der Weg zur KulturSchule ist ein mehrjähriger, begleiteter Prozess: Schulen bewerben sich, formulieren ein kulturelles Leitbild, bilden Steuergruppen, nehmen an Fortbildungen teil und vernetzen sich mit Künstler:innen, Kulturinstitutionen und anderen Schulen im Programm.

    Ziel ist es, kulturelle Bildung nicht als „Add-on“, sondern als integralen Bestandteil von Schulentwicklung zu etablieren. KulturSchulen verstehen sich als lernende Organisationen, die kulturelle Bildung nicht nur für Schüler:innen, sondern auch für das Kollegium und die Eltern erfahrbar machen. Sie setzen Impulse für eine Schule, die Vielfalt wertschätzt, Kreativität fördert und Bildung als ganzheitlichen Prozess begreift.

    Der Weg zur KulturSchule ist dabei ein mehrjähriger Prozess, begleitet durch Fortbildungen, Netzwerktreffen und individuelle Beratung. Schulen entwickeln ein eigenes kulturelles Leitbild, bauen Kooperationen mit Künstler:innen und Kulturinstitutionen auf und schaffen Räume für kreative Entfaltung – für Schüler:innen ebenso wie für das Kollegium. Heute gehören über 30 Schulen in Hessen diesem Netzwerk an – jede mit einem eigenen Profil, aber verbunden durch die gemeinsame Überzeugung: Kulturelle Bildung ist kein Luxus, sondern ein Bildungsrecht.

    Warum ich KulturSchule will

    Ich würde auch gerne an einer KulturSchule arbeiten. Vielmehr würde ich gerne meine Schule zu einer KulturSchule hinentwickeln – auch weil ich der Überzeugung bin, dass ein solches Profil sehr gut zu unserer Schüler- und Lehrerschaft passen könnte. Ich arbeite daran, doch empfinde ich es selbst zu oft wie ein Kampf gegen Windmühlen: Ich komme einfach nicht gegen die Vorbehalte, Befürchtungen, Befindlichkeiten und andere Ressentiments an. Es gelingt mir nicht, meine Idee einer kulturell-bildenden Schule auf die Schulgemeinde zu projizieren und die Entscheidungsträger zu überzeugen.

    Lange Zeit habe ich versucht zu verstehen, warum andere nicht in gleicher Weise davon überzeugt sind wie ich; warum man so zögert und sich sogar abweisend verhält. Wissen tue ich es bis heute nicht. Doch habe ich eine Vermutung:

    Jeder Leuchtturm hat seinen Schatten

    Zweifelsohne ist das Projekt KulturSchule ein tolles Leuchtturmprojekt in der hessischen Bildungs- und Schullandschaft: Über 30 Schulen sind seit nunmehr über 17 Jahre dabei, um ein kulturelles Schulprofil zu entwickeln und zu leben. Die hessische Idee der KulturSchulen hat sogar über die Landes- und Bundesgrenze hinaus Nachahmer gefunden. Zurecht können wir beim Schulentwicklungsprogramm also von einem Leuchtturmprojekt sprechen.

    Leuchtturmprojekt, das (Substantiv, Neutrum)

    • herausragendes, wegweisendes Projekt (besonders im kulturellen und politischen Bereich)
    Quelle: duden.de

    KulturSchule zu werden ist das Bekenntnis einer Schulgemeinschaft zu einem gewissen Profil. Erzeugt wird eine solche Profilierung durch Fokussierung und Konzentration auf einen Aspekt. In diesen Aspekt wird dann meist die Energie investiert, die zuvor in viele verschiedene andere Bereiche geflossen ist. Es handelt sich um eine Spezialisierung, also das Gegenteil von Diversifizierung. Das heißt: Eine Schulgemeinde entscheidet sich bewusst dazu, bestimmte Ziele und Herangehensweisen nicht mehr prioritär zu verfolgen. Profilierung bedeutet also Zuspitzung dadurch, dass bestimmte Aspekte nicht mehr als relevant eingestuft werden, sich von ihnen zuweilen also abgegrenzt wird.

    Doch auch jeder Leuchtturm wirft Schatten. Und je höher ein Leuchtturm ist, desto größer ist er.

    Quelle: Microsoft Copilot

    WENN PROFILIERUNG ZU ABGRENZUNG FÜHRT

    Das Profil KulturSchule schafft also eine Grenze zwischen den derzeit 31 KulturSchulen und den „normalen“ Schulen. Diese Abgrenzung wirkt sich darauf aus, wie sich KulturSchulen und Nicht-KulturSchulen gegenseitig wahrnehmen:

    KulturSchulen sagen mit ihrer Profilentscheidung also auch: „Ich sage mich von der normalen Schule los, ich möchte mit ihr nichts mehr zu tun haben.“ Das ist also eine klare Abkehr und in gewisser Weise auch Verurteilung aller Schulen, die nicht diesen Weg gehen wollen – oder können. Wären Schulen Menschen – und in gewisser Weise sind sie es, weil sie von uns getragen und gestaltet werden – müsste man das als Kränkung verstehen. Und so reagieren manche Schulen auch!

    abgrenzen (schwaches Verb)

    • von etwas durch eine Grenze abtrennen
    • etwas, sich durch genaue Bestimmung von etwas, jemandem trennen, absetzen
    • sich distanzieren, von jemandem, einer Sache absetzen

    Synonyme: abrücken, sich lösen, sich lossagen, mit jemandem/etwas nichts mehr zu tun haben wollen

    Quelle: duden.de

    Elite oder Netzwerk? – Ist Kulturelle Bildung der DACIA unter den Schulprofilen: das Statussymbol für alle, die kein Statussymbol brauchen?

    Das Label „KulturSchule“ schafft einen geschlossenen Kreis von Schulen: In gewisser Weise handelt es sich dabei um einen elitären Zirkel, etwas, das mit dem Selbstverständnis und dem Bildungsziel von KulturSchulen eigentlich nicht vereinbar sein dürfte. Verstärkt wird dieser Eindruck durch den mehrjährigen und recht hochschwelligen Zertifizierungsprozess als KulturSchule. So schaut das System KulturSchule also genau darauf, welche Schule „mitmachen“ darf und welche nicht, welche zu den Bildungsidealen und -zielen passt und welche nicht, wer in diesen geschlossenen Kreis aufgenommen wird und wer nicht. Das klingt schon sehr nach Elite – nur eben anders, als wir es oft assoziieren.

    Elite, die (Substantiv, feminin)

    • eine Auslese darstellende Gruppe von Menschen mit besonderer Befähigung, besonderen Qualitäten; die Besten, Führenden; Führungsschicht, -mannschaft

    Synonyme: Auslese, Auswahl, die Besten, die oberen Zehntausend

    Quelle: duden.de

    KulturSchule – kein gymnasiales Profil?

    Und so scheinen die Vorbehalte, Bedenken, Zweifel und Ressentiment gerade bei Gymnasien hoch, denn nur ca. ein Viertel aller hessischen KulturSchulen sind Gymnasien. Der größte Teil der KulturSchulen in Hessen besteht aus Gesamtschulen. Das hat natürlich Auswirkungen auf die Wahrnehmung des KulturSchul-Programms gymnasialer Schulleiter:innen als ein Profil für Gesamtschulen: Das erschwert es Gymnasien in ihrem Selbstverständnis – gerade in Ballungsräumen wie Frankfurt – sich dem anzunähern, weil man eigentlich darauf bedacht ist, sich von den Gesamtschulen zu distanzieren und abzugrenzen. Und das könnte durchaus auf den gesamten Bereich der Kulturellen Bildung als etwas „Gesamtschulmäßiges“ ausstrahlen. Ich bin aber davon überzeugt, dass Kulturelle Bildung in allen Schulformen vorkommen muss!

    Kulturelle Bildung wächst in der Breite und nicht in der Tiefe

    Das System KulturSchule schafft durch die Abgrenzung zu Nicht-KulturSchulen Konkurrenz – und dann wiederum als Reaktion eine noch stärkere Abgrenzung. Mit Sicherheit war das Leuchtturmprojekt KulturSchule eine wichtige Innovation: Es stellt sich allerdings die Frage, ob die Strahlkraft dieses 17 Jahre alten Leuchtturms langsam nachlässt, die Schatten aber bleiben und damit größer als die Strahlkraft werden könnten.

    Ich habe Angst, dass wir an einem Punkt angekommen sein könnten, an dem dieses Schulprofilentwicklungsprogramm die flächendeckende Ausbreitung der Idee der Kulturellen Bildung in Schulen beginnen könnte zu hemmen.

    Unser Ziel sollte doch sein, möglichst viele Schulen von dem „Pilz“ der Kulturellen Bildung durchziehen zu lassen. Ein Pilzgeflecht wächst aber in die Breite – und nicht in die Tiefe. Daher sollten wir doch auch versuchen, Kulturelle Bildung in die Breite zu bringen und nicht wenige Schulen immer tiefer darin zu verankern.

    Und wenn wir Schule anders denken?

    • Was wäre, wenn Schulentwicklung nicht mehr als Kampf gegen Widerstände, sondern als gemeinsames Wachsen verstanden?
    • Wie könnten wir kulturelle Bildung als verbindendes Element nutzen, um starre Strukturen zu lockern und neue Räume für Entwicklung zu schaffen?
    • Was würde passieren, wenn wir nicht länger auf Zustimmung von oben warten, sondern einfach anfangen – im Kleinen, im Verborgenen, im Vertrauen auf Wirkung?
    • Könnte eine Schule, die kulturelle Bildung lebt, nicht auch andere Entwicklungsprozesse beflügeln – etwa im Bereich Demokratiebildung, Nachhaltigkeit oder sozialem Lernen?
    • Wie sähe eine Schule aus, in der sich nicht Profile gegenseitig verdrängen, sondern sich gegenseitig befruchten?
    • Was würde sich verändern, wenn Schulentwicklung nicht mehr als Wettbewerb, sondern als kollektiver Prozess gedacht würde – getragen von Vielfalt, Kreativität und gegenseitigem Vertrauen?
    • Und was wäre, wenn wir eines Tages feststellen: Die kulturelle Bildung hat längst begonnen zu wachsen – nicht als Leuchtturm, sondern als lebendiges Geflecht unter unseren Füßen?
  • Kulturelle Bildung als gesellschaftliches Myzel

    Wie Kulturelle Bildung unsere „pflanzliche Intelligenz“ stärkt

    SIND PFLANZEN „INTELLIGENT“?

    Während meiner eintägigen Hospitation im Museum Sinclair-Haus stieß ich auf einen Begriff, der mich seither nicht mehr loslässt: pflanzliche Intelligenz. Der zweite Teil der Ausstellung „Unter Pflanzen“ widmet sich genau diesem Thema – der Frage, wie Pflanzen wahrnehmen und handeln, wie sie also Intelligenz zeigen.

    Museum Sinclair-Haus (Hg.): Unter Pflanzen, S. 25

    Dieser Gedanke hat mich auch Tage nach meinem Besuch beschäftigt. Bei weiteren Recherchen stieß ich auf den Namen Stefano Mancuso. In seinem Buch Die Intelligenz der Pflanzen (ital. Originaltitel Verde brillante, übersetzt von Christine Ammann) stellt er gleich zu Beginn zentrale Fragen:

    Stefano Mancuso/Alessandra Viola: Die Intelligenz der Pflanzen, S. 4

    Am Ende des Buches kommt Mancuso zu dem Schluss, dass Pflanzen zweifellos als intelligente Organismen gelten können. Sie erfassen, speichern, verarbeiten und nutzen Informationen aus ihrer Umgebung – und das ganz ohne ein zentrales Gehirn. Ihre modulare Struktur erlaubt es ihnen, die Signale ihrer insgesamt 15 verschiedenen Sinne in einem dezentralen, hochsensiblen System zu verarbeiten. So reagieren sie auf biotische und abiotische Einflüsse, lernen aus Erfahrungen, passen sich an und lösen relevante Probleme.

    Für Mancuso besteht pflanzliche Intelligenz aus folgenden Merkmalen:

    • Dezentrale Intelligenz: Pflanzen besitzen kein Gehirn, aber Millionen von Wurzelspitzen, die wie kleine Sensoren funktionieren – vergleichbar mit Neuronen.
    • Kommunikation: Sie tauschen Informationen aus, etwa über chemische Signale oder elektrische Impulse.
    • Lernen und Gedächtnis: Experimente zeigen, dass Pflanzen auf wiederholte Reize unterschiedlich reagieren – ein Hinweis auf ihre Lernfähigkeit.

    DAS GEHEIME LEBEN DER BÄUME

    Peter Wohlleben, der durch seine Bücher und zahlreiche Talkshow-Auftritte in den letzten zwei Jahrzehnten einem breiten Publikum bekannt wurde, beschreibt in seinem populärwissenschaftlichen Werk Das geheime Leben der Bäume auf anekdotische – und zugleich zutiefst empathische – Weise, wie Pflanzen miteinander interagieren.

    Eine seiner eindrücklichsten Beobachtungen beginnt mit einem vermeintlich unscheinbaren Fund: einen „bemoosten Stein“ in seinem Forstrevier. Doch bei näherer Betrachtung stellte sich heraus, dass es sich gar nicht um einen Stein handelte, sondern um einen uralten Baumstumpf. Und das „Moos“ war in Wahrheit Chlorophyll – der Stumpf lebte noch. Wohlleben schätzte, dass der Baum vor etwa 400 bis 500 Jahren gefällt worden war. Die Frage, wie ein so alter Baum über Jahrhunderte hinweg grünen Farbstoff produzieren konnte, führte ihn unter die Erde: Ein unterirdisches Netzwerk aus Wurzeln und Pilzen versorgte den Stumpf weiterhin mit Nährstoffen – die umliegenden Bäume hielten ihn am Leben.

    Diese Form der gegenseitigen Unterstützung ist kein Einzelfall. Bäume teilen Nährstoffe und helfen sogar konkurrierenden Artgenossen, weil sie als Gemeinschaft bessere Überlebenschancen haben. Ein einzelner Baum ist Wetterextremen schutzlos ausgeliefert. Doch gemeinsam bilden viele Bäume ein stabiles Ökosystem, das Hitze und Kälte abmildert, Wasser speichert und feuchte Luft erzeugt. Dieses Mikroklima schützt sie und ermöglicht ein langes Leben. Voraussetzung dafür ist der Erhalt der Gemeinschaft: Würde jeder Baum nur auf sich selbst achten, entstünden Lücken im Blätterdach, durch die Stürme eindringen und der Waldboden austrocknen könnte – mit fatalen Folgen für alle.

    Um diese Gemeinschaft zu stärken, haben sich Bäume schon vor Millionen von Jahren mit Pilzen verbündet. Wohlleben beschreibt, wie Pilze über ihr unterirdisches Geflecht – das sogenannte Myzel – in enger Partnerschaft mit Bäumen leben. Dieses Netzwerk kann sich über Jahrzehnte ausdehnen und macht Pilze zu den größten bekannten Lebewesen der Erde.

    Für Bäume ist diese Verbindung von unschätzbarem Wert: Das Myzel eines passenden Pilzpartners – etwa dem Eichenreizker bei Eichen – vergrößert die wirksame Oberfläche ihrer Wurzeln erheblich. Dadurch können sie deutlich mehr Wasser und Nährstoffe aufnehmen. Pflanzen, die mit Pilzen kooperieren, enthalten doppelt so viel Stickstoff und Phosphor wie solche ohne Pilzpartner.

    Damit diese Partnerschaft funktioniert, muss der Baum buchstäblich offen sein: Die Pilzfäden dringen in seine Feinwurzeln ein – eine Form der Kooperation, die Vertrauen voraussetzt. Das Pilzgeflecht durchzieht nicht nur die Wurzeln, sondern breitet sich im Waldboden aus, verbindet sich mit anderen Bäumen und deren Pilzpartnern. So entsteht ein weitreichendes Netzwerk, über das nicht nur Nährstoffe, sondern auch Informationen ausgetauscht werden – etwa über bevorstehende Insektenangriffe. Darüber hinaus bietet das Myzel Schutz vor Krankheitserregern wie Bakterien und anderen Eindringlingen – es macht die Pflanzen resilient.

    Das mit Trypanblau eingefärbte Präparat zeigt in 400-facher Vergrößerung die horizontal verlaufenden Arbuskeln, über die sich Pilz und Pflanzenzelle austauschen.

    Museum Sinclair-Haus (Hg.): Blattwerke 22, S. 13

    BIS DAHIN: PFLANZEN DENKEN ANDERS – UND VIELLEICHT KLÜGER ALS WIR

    Die Auseinandersetzung mit pflanzlicher Intelligenz – sei es durch wissenschaftliche Perspektiven wie die von Stefano Mancuso oder durch erzählerisch-empathische Zugänge wie bei Peter Wohlleben – zeigt eindrucksvoll: Pflanzen sind keine passiven Lebewesen, sondern hochsensible, lernfähige und kooperative Organismen. Sie verfügen über ein dezentrales, vernetztes System der Wahrnehmung und Kommunikation, das ihnen ermöglicht, auf komplexe Umweltbedingungen zu reagieren, sich anzupassen und sogar vorausschauend zu handeln.

    Besonders faszinierend ist dabei das Bild des Waldes als Gemeinschaft: Bäume und Pilze bilden über das Myzel ein unterirdisches Netzwerk, das nicht nur Nährstoffe, sondern auch Informationen zirkulieren lässt – ein lebendiges System gegenseitiger Fürsorge, das auf Kooperation statt Konkurrenz basiert. Dieses Netzwerk ist nicht nur funktional, sondern auch resilient: Es schützt, verbindet und erhält das Leben.

    KULTURELLE BILDUNG IST DAS MYZEL DER MENSCHLICHEN GESELLSCHAFT

    Was wäre, wenn wir Bildung – insbesondere kulturelle Bildung – ähnlich denken würden? Nicht als linearen Prozess mit zentraler Steuerung, sondern als myzelartiges Geflecht aus Beziehungen, Resonanzen und geteiltem Wissen? Ein System, das auf Offenheit, Vertrauen und gegenseitiger Unterstützung beruht – und in dem Vielfalt nicht gestört, sondern gestärkt wird?

    Analogie #1: Wurzelwerk – menschliche Erlebnisse, Erfahrungen, Erkenntnisse und Wissen

    Wie ein Baum besitzt auch der Mensch eine sichtbare und eine unsichtbare Seite. Der oberirdische Teil des Baumes entspricht dem äußeren Erscheinungsbild des Menschen – seinem Gestus, seinem Habitus. Unsichtbar bleibt hingegen das Wurzelwerk, das für den Baum ebenso lebenswichtig ist wie für den Menschen seine inneren Prozesse: Denken, Fühlen, Erinnern, Erleben, Verstehen.

    Diese inneren, nicht sichtbaren Faktoren sind die Grundlage für unser Handeln und die Basis aller unserer Entscheidungen. Sie bestimmen, wie wir uns in der Welt bewegen – genauso wie die Wurzeln eines Baumes seine Standfestigkeit und sein Wachstum beeinflussen. Je vielfältiger und verzweigter das Wurzelwerk, desto stabiler steht der Baum im Boden. Und je reicher der Erfahrungsschatz eines Menschen, desto geerdeter und resilienter ist er gegenüber äußeren Einflüssen.

    Doch Wurzeln, die sich nicht mit anderen verbinden, bleiben isoliert. Ein Baum, der nicht Teil eines Waldes ist, kann nicht von den Ressourcen und Informationen anderer profitieren. Ebenso bleibt ein Mensch, der gesellschaftlich nicht eingebunden ist, auf seinen eigenen Mikrokosmos beschränkt. Die Folge: geringere Widerstandskraft, weniger Lernmöglichkeiten, eingeschränkte Entwicklung.

    Analogie #2: Myzel – Bildung

    Das Myzel, das unterirdische Geflecht eines Pilzes, vergrößert die Oberfläche der Pflanzenwurzeln und macht sie anschlussfähig – es schafft Verbindung, Austausch und Kooperation. Was in der Pflanzenwelt das Myzel ist, ist für den Menschen die Bildung.

    Bildung vernetzt unsere Erfahrungen, Erkenntnisse und Erlebnisse miteinander. Das hat zur Folge, dass sich der Kontext der gemachten Erlebnisse und Erfahrungen verändert und sich dadurch auch eine andere und Erkenntnis herleitet. Sie bettet sie in größere Zusammenhänge ein, verändert ihre Bedeutung und eröffnet neue Perspektiven. Wie das Myzel ermöglicht Bildung den Austausch mit anderen – sie macht uns anschlussfähig an das Wissen und die Erfahrungen unserer Mitmenschen. Durch diese interpersonelle Vernetzung wird der Mensch aus seinem individuellen Erfahrungsraum herausgeführt und in ein soziales Gefüge eingebettet. Bildung macht uns resilienter, weil sie uns nicht nur mit uns selbst, sondern mit der Welt verbindet.

    Analogie #3: Mykorrhiza-Pilz – Kulturelle Bildung

    Nicht jeder Pilz passt zu jeder Pflanze – und natürlich passt nicht jede Bildungsform zu jedem Menschen. Der Mykorrhiza-Pilz steht in dieser Analogie für die Kulturelle Bildung. Andere Pilzarten könnten für andere Bildungsbereiche stehen, etwa für die Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) oder die MINT-Bildung.

    Ein funktionierendes Ökosystem braucht Vielfalt – verschiedene Pilzgeflechte, die unterschiedliche Wurzelsysteme miteinander verbinden, damit möglichst viele verschiedene Pflanzen in das Netzwerk eingebunden werden können; andernfalls würden bestimmte Pflanzen aus dem Ökosystem ausgeschlossen werden. Ebenso braucht eine vielfältige Gesellschaft unterschiedliche Bildungszugänge, die verschiedenen Menschen gerecht werden. Eine Dominanz einzelner Bildungsformen würde zwangsläufig andere verdrängen – und damit die gesellschaftliche Vielfalt schwächen.

    Die Kulturelle Bildung zeigt sich besonders anschlussfähig an die kulturellen Wurzeln unserer Gesellschaft. Doch sie sucht auch die Verbindung zu anderen Bildungsformen – etwa zu naturwissenschaftlichen oder ökologischen Perspektiven. Entscheidend ist, dass die Bildungsbereiche untereinander kooperieren, um ein gemeinsames Erfahrungsnetz zu knüpfen, das die Gesellschaft als Ganzes, als menschliches Ökosystem, stärkt und ihm eine gemeinsame Basis verleiht.

    Analogie #4: Fruchtkörper – Kunst

    Was wir als „Pilz“ bezeichnen, ist meist nur der sichtbare Fruchtkörper – das kleine Hütchen am Stiel. Der eigentliche Pilz wächst im Verborgenen, unter der Erde. Der Fruchtkörper ist ein Produkt der Zusammenarbeit zwischen Baum und Pilz – ein sichtbares Zeichen eines unsichtbaren Prozesses.

    In dieser Analogie steht der Fruchtkörper für die Kunst. Sie ist das sichtbare, wahrnehmbare (und je nach Geschmack mehr oder weniger genießbare) Produkt kultureller Bildungsprozesse. Kunst entsteht aus dem Zusammenspiel von inneren Erfahrungen, gesellschaftlicher Einbettung und kreativer Ausdruckskraft. Ohne das unsichtbare Netzwerk der Kulturellen Bildung gäbe es keine Kunst – genauso wie ohne Myzel kein Fruchtkörper wachsen kann.

    Und wie der Pilz ein Medium braucht, durch das er wachsen kann, braucht auch die Kunst ein Medium: den Menschen als gesellschaftliches, kreatives Wesen.

    EIN NETZWERK FÜR RESILIENZ, IDENTITÄT UND KOLLEKTIVE INTELLIGENZ

    Die pflanzliche Intelligenz lehrt uns, dass Leben nicht nur aus individuellen Fähigkeiten besteht, sondern vor allem aus Beziehungen, Kooperation und Vernetzung. Wenn wir diesen Gedanken auf die kulturelle Bildung übertragen, entsteht ein kraftvolles Bild: Kulturelle Bildung ist mehr als ein pädagogisches Konzept – sie ist ein lebendiges, wachsendes Netzwerk, sie ist das Myzel, das die ästhetisch-kulturellen Wurzeln der Gesellschaft und Menschheit miteinander verbindet und in Austausch bringt. In diesem Verständnis ist Kulturelle Bildung kein Zusatz, sondern ein Fundament: Sie verwebt individuelle Erfahrungen mit kollektiven Bedeutungen und schafft Räume für Resonanz, Teilhabe und Transformation.

    In diesem Netzwerk ist unsere Identität eingebettet – nicht als starres Konstrukt, sondern als dynamisches Geflecht aus Erfahrungen, Ausdrucksformen und kultureller Teilhabe. Wie das Myzel die Wurzeln der Pflanzen stärkt, erweitert Kulturelle Bildung die Oberfläche unserer Identität – sie macht uns anschlussfähig, offen für Begegnung und widerstandsfähig gegenüber gesellschaftlichen Herausforderungen. Kulturelle Bildung macht uns dadurch standfester und resilienter, weil sie uns mit anderen verbindet und unsere Wurzeln stärkt.

    Darüber hinaus entfaltet sie emergente Eigenschaften: Sie fördert die gesellschaftliche Schwarmintelligenz und trägt dazu bei, dass wir als Gemeinschaft klüger, kreativer und empathischer handeln – unter Berücksichtigung unserer kulturellen Prägungen und individuellen Perspektiven und verleiht uns ein tieferes Verständnis für das eigene Sein in Beziehung zur Welt.

    Quelle: Microsoft Copilot

    Kulturelle Bildung ist damit nicht nur ein Spiegel unserer „pflanzlichen Intelligenz“, sondern auch ein Weg, sie zu kultivieren und zu fördern: Sie ist das unsichtbare Geflecht, aus dem Kunst als sichtbarer Fruchtkörper hervorgeht. Und sie ist das Medium, durch das wir als Menschen wachsen – nicht allein, sondern miteinander. Sie lehrt uns, zu hören, zu fühlen, zu verbinden – und gemeinsam zu wachsen.

    WAS WÄRE WENN…?

    • Was wäre, wenn wir Bildung nicht als System, sondern als lebendiges Ökosystem denken würden?
    • Was würde sich verändern, wenn wir Schulen, Museen, Theater und andere Bildungsorte als Wurzelräume begreifen – als Orte, an denen Myzelien geknüpft und Fruchtkörper hervorgebracht werden?
    • Was wäre, wenn Lernen nicht nur kognitiv, sondern auch sensorisch, emotional und sozial verstanden würde – wie bei Pflanzen?
    • Was würde passieren, wenn wir Bildungsprozesse nicht zentral steuern, sondern dezentral ermöglichen würden – wie ein Wald, der sich selbst organisiert?
    • Wie sähe Unterricht aus, wenn er nicht auf Wissensvermittlung, sondern auf Resonanz und Beziehung ausgerichtet wäre?
    • Was würde sich verändern, wenn wir kulturelle Bildung nicht als Zusatz, sondern als Wurzelstruktur unserer Gesellschaft begreifen würden?
    • Wie können wir Bildungsräume schaffen, in denen Vielfalt nicht nur toleriert, sondern als Voraussetzung für kollektive Intelligenz verstanden wird?
    • Was wäre, wenn Kunst nicht das Ziel, sondern der sichtbare Ausdruck eines tief verwurzelten Bildungsprozesses wäre?
    • Wie können wir Bildungsprozesse so gestalten, dass sie nicht nur Wissen vermitteln, sondern Identität stiften und Resilienz fördern?
  • Musik – ein evolutionäres Abfallprodukt oder mehr?

    Warum wir mehr Musikunterricht brauchen

    Heute Morgen entdeckte ich einen Artikel auf tagesschau.de, der diese Überschrift trug. Und ich fühlte mich von der Überschrift provoziert, in meiner Ehre als Musiklehrer verletzt – ja fast schon beleidigt: Wie kann überhaupt die Frage gestellt werden, dass Musik möglicherweise nur Abfall sei? Ist Musik ein „aus Abfällen hergestelltes Produkt“? Ist Musik ein „bei der Herstellung zusätzlich abfallendes Produkt“?

    Abfallprodukt, das

    (Substantiv, Neutrum)

    • aus Abfällen hergestelltes Produkt
    • bei der Herstellung zusätzlich abfallendes Produkt

    Quelle: duden.de

    Ich bin Musik- und Deutschlehrer – und ich unterrichte bestimmt keinen Abfall. Davon bin ich überzeigt! Wie sehr hat das Fach Musik mit seiner eigenen Legitimation in Zeiten zunehmender Ökonomisierungstendenzen und einer stärkeren Fokussierung auf den MINT-Bereich zu kämpfen. Sogar als Nebenfach hat es in der hessischen Stundentafel an Gymnasien einen untergeordneten Stellenwert, da es in der Sekundarstufe I noch nicht mal durchgängig unterrichtet wird. In der Sekundarstufe II müssen sich die Schüler:innen sogar zwischen Musik und Kunst entscheiden.

    Und schon wird mir klar: Die Frage in der Überschrift ist irgendwie doch berechtigt. Zumindest wird Musik im schulischen Kontext oft als Abfallprodukt behandelt; als etwas, das in seiner Bedeutung hinter allen anderen Fächern „abfällt“.

    MUSIK ALS KOMMUNIKATIVES UR-EI

    In dem Artikel wird beschrieben, dass das menschliche Gehirn auf die Wahrnehmung und den Genuss von Musik angelegt sei, diese Fähigkeit also genetisch in uns verankert sei. Da die Evolutions- und Hirnforschung in der Musik aber keine unmittelbaren Vorteile im Überlebenskampf des Menschen fanden, wurde bislang angenommen, dass sich Musik als akustisches Phänomen parallel zur und mit der menschlichen Sprache entwickelt habe – Musik also ein „Abfallprodukt der Sprache“ sei. Im Raum stand auch immer wieder die Grundannahme, dass sich Musik und Sprache aus einer ursprünglich gemeinsamen Grundform entwickelt habe, ähnlich der „Ur-Ei“-Theorie Johann Wolfgang von Goethes zu den literarischen Gattungen.

    Diese Sprachähnlichkeit von Musik war Jahrzehnte lang eine Grundannahme in der Musikwissenschaft und -pädagogik: Von Umberto Eco über Carl Dahlhaus bis hin zu Walther Dürr wurde diese Annahme breit und selbstverständlich vertreten. Diese Grundannahme ist schließlich sogar Ausgangsbasis des sogenannten Aufbauenden Musikunterrichts von Werner Jank, der eine – an der Alphabetisierung orientierten – „Musikalisierung“ des Kindes zum Ziel hat: Genau so wie Sprache weist auch die Musik eine gewisse eigene Grammatik auf, die – ähnlich wie eine Sprache – sukzessiv und in Form eines Scaffolding erlernt und somit zum individuellen Ausdrucksmittel werden kann.

    Der Artikel legt nun aber nahe, dass die Wissenschaft mittlerweile zu der Erkenntnis gekommen sei, dass die Unterschiede zwischen Musik und Sprache zu groß seien, um diese beiden Ausdrucksformen in Beziehung zu setzen: Sprache diene der Information. Dafür würde ein Sender einem Empfänger etwas mitteilen. Bei Musik teile man hingegen nichts mit. Man teile sie miteinander. Während die sprachliche Äußerung als Verbindung von Lauten eine symbolische Funktion habe, gäbe es diese bei Musik nicht, da es in Musik „keine musikalischen Vokabeln [gäbe], die man lernen müsste, um sie zu verstehen. […] Deshalb ist es in der Sprache oft möglich, das Gleiche mit anderen Worten zu sagen, oder auch in einer anderen Sprache. In der Musik geht das nicht. Jede Melodie, jedes Thema ist unverwechselbar.“

    Ich bin mir da nicht sicher: Nicht jede Melodie und jedes Thema ist unverwechselbar. Dazu kenne ich zu viele Ähnlichkeiten und Zweifelsfälle: Wie könnte jede musikalische Idee auch stets originär sein, wenn sich in so vielen Jahrhunderten Musikgeschichte die grundsätzlichen Ausdrucksmittel der Musik nur geringfügig geändert haben? Der zweifelsohne vorhandene Wandel der Tonsprache in den Epochen ist dabei, meiner Meinung nach, mit dem Wandel der deutschen Sprache vom Mittelalter bis heute zu vergleichen: Auch wenn sich der Tonfall, der Ausdruck, die Grammatik, die Schreibweise, die Wortwahl geändert haben, blieb doch das grundsätzliche Funktionssystem eigentlich gleich.

    Seit der Etablierung der Dur-Moll-Tonalität ist es auf natürliche Weise in unserer Seele verankert, bei Mollklängen eher Traurigkeit und bei Durklängen Fröhlichkeit zu empfinden. Oder wir nehmen den Beginn der 5. Sinfonie von Ludwig van Beethoven: Noch nie kam ein:e Schüler:in auf die Idee, das weltbekannte Klopfmotiv, von dem Beethoven später selbst behauptete, dass so das Schicksal an die Pforte klopfe, als fröhlich zu beschreiben. Das ist nichts, das ich im Unterricht so beibringe: Das ist das, was die Schüler:innen von sich aus damit assoziieren und präsentieren. Von daher würde ich an dieser Stelle schon sagen, dass musikalische Klänge durchaus eine symbolische Bedeutung haben können. Und ja: Diese Bedeutung mag kulturell in unserer europäischen Musiktradition verankert sein. Aber auch das ist bei der Verbalsprache nicht anders.

    Beim Musikhören sind laut der im Artikel zitierten Studie sogar mehr Hirnareale aktiv als beim Sprechen. Musik muss also in seiner Komplexität sogar über die Verbalsprache hinausgehen. Deswegen scheinen im Gehirn sogar bestimmte Hirnareale nur für die Musik vorhanden zu sein, das bei Menschen mit „Amusie“ aber nicht aktiviert werde:

    Die Forscherin Jessica Phillips-Silver schlussfolgert in „Das Wissen“ vom SWR daraus, dass das Gehirn sogar für die Musik – und nicht für die Sprache – gemacht sein könnte. Das hieße aber auch, dass nicht die Musik das Abfallprodukt sei. Vielmehr wäre die Verbalsprache das Abfallprodukt der Musik. Und meiner Meinung nach ergibt das auch viel mehr Sinn, schließlich scheint die Verbalsprache in ihrer Struktur deutlich weniger komplex zu sein als die Musik.

    Amusie, die

    (Substantiv, feminin)

    • Unfähigkeit, Musisches zu verstehen
    • Unfähigkeit zu musikalischem Verständnis oder zu musikalischer Hervorbringung
    • krankhafte Störung des Singvermögens oder der Tonwahrnehmung

    Herkunft: griechisch amousía = Mangel an Bildung

    Quelle: duden.de

    Podcastfolge „Wie der Mensch die Musik entdeckte“ vom SWR (Quelle: pdodswr-a.akamaihd.net/swr/swr2/wissen/sendungen/wissen/swr2wissen-20201230-wie-der-mensch-die-musik-entdeckte.mp3)

    AM ANFANG WAR DIE MUSIK

    So könnte man meinen, dass Musik zur menschlichen DNS gehört, zu unserem Menschsein. Sie diente dazu, sich verständigen, soziale Bindungen aufzubauen und zu festigen. Gerade das gemeinsame Musikmachen und -hören und der Austausch darüber bringt uns in Resonanz zu uns selbst und zu unseren Mitmenschen. Musik führt uns in Zeiten zunehmender Entfremdung zu uns und selbst und unserem eigenen Menschsein zurück.

    Wenn wir also weiterhin Musik als künstlerisches Abfallprodukt betrachten, das in Schule einen geringeren Stellenwert genießt, nehmen wir den Kindern einen Teil ihrer eigensten Identität und uns als Gesellschaft den wohl ursprünglichsten Weg des sozialen Miteinanders. Und gerade diesen brauchen wir heute mehr denn je.

    Umso wichtiger ist die Rolle der Kulturellen Bildung in Schule: Sie ermöglicht den Kindern, zu sich selbst und damit auch zu anderen zu finden. Sie verhilft dabei, sich auszudrücken und den Ausdruck anderer zu verstehen. Sie dient dem Austausch und dem Miteinander. Und der Musikunterricht könnte da eine wichtige Rolle spielen, wenn man ihn nur ließe.

    UND NEIN: Musik ist mit Sicherheit kein evolutionäres Abfallprodukt!

    VIER APPELLE FÜR MEHR MUSIK IN SCHULEN

    Stärkt Musik als Ursprung von Kommunikation!

    Musik ist kein bloßes „Add-on“ im Stundenplan – sie ist ein anthropologisches Fundament. Wenn aktuelle Forschungen nahelegen, dass Musik der Sprache evolutionär vorausging, dann muss sie auch im Bildungssystem als grundlegende Kommunikationsform anerkannt werden.

    Gebt der Musik einen festen Platz in sprachsensiblen Bildungssettings – insbesondere im Anfangsunterricht, in der Inklusion und im Bereich Deutsch als Zweitsprache. Musikunterricht ist Sprachbildung – emotional, rhythmisch, körperlich und gemeinschaftlich.

    Nutzt Musik als soziale Praxis!

    Musik war nie Selbstzweck. Sie diente seit jeher der sozialen Koordination, der Bindung, dem Ritual. Gerade in einer Zeit zunehmender gesellschaftlicher Fragmentierung brauchen wir Räume, in denen Gemeinschaft erlebt und gestaltet werden kann.

    Schulen müssen Orte des gemeinsamen Musizierens, Hörens und Reflektierens sein. Musikunterricht darf nicht dem Spardruck geopfert werden – er ist ein Schlüssel zur sozialen Teilhabe, zur Integration und zur Persönlichkeitsbildung.

    Anerkennt ästhetische Praxis als Erkenntnisform!

    Musik ist nicht nur emotional berührend – sie ist auch kognitiv herausfordernd. Sie verlangt Differenzierung, Strukturwahrnehmung, Interpretation. Wer Musik macht, denkt – nur anders.

    Kulturelle Bildung darf nicht länger als „weiches“ Bildungsziel gelten. Sie ist ein eigenständiger Erkenntnisweg, der andere Formen des Weltzugangs ermöglicht. Schulen brauchen mehr ästhetisch-kreative Lernräume – nicht weniger.

    Denkt Unterricht fächerübergreifend – mit Musik!

    Musik ist kein isoliertes Fach. Sie steht in enger Verbindung zu Sprache, Geschichte, Theater, Religion, Psychologie und sogar Mathematik. Wer Musik unterrichtet, öffnet Tore zu anderen Disziplinen – und zu den Schüler:innen selbst.

    Ermöglicht fächerverbindende Projekte, in denen Musik als verbindendes Element wirkt. Fördert Kooperationen zwischen Musik, Deutsch, Darstellendem Spiel, Geschichte und anderen Fächern. Kulturelle Bildung ist kein Luxus – sie ist der Kitt, der Bildung zusammenhält.

  • Ein Tag im Netz

    Zu Besuch bei der Landesvereinigung Kulturelle Bildung Hessen e.V.

    Wer das Frankfurter Bahnhofsviertel kennt, denkt vermutlich nicht sofort an Orte der kulturellen Reflexion und Bildung. Und doch liegt genau hier, inmitten von urbaner Hektik und gesellschaftlichen Spannungsfeldern, eine der zentralen Institutionen für Kulturelle Bildung in Hessen: die Landesvereinigung Kulturelle Bildung Hessen e.V. (LKB).

    Die LKB wurde 2009 gegründet und versteht sich als überkonfessionelle, weltanschaulich und parteipolitisch unabhängige Interessenvertretung für Akteur:innen der Kulturellen Bildung. Sie ist ein Dachverband, der rund 70 Fachverbände, Institutionen, Vereine und Organisationen aus ganz Hessen vereint – von Museen über Theaterpädagog:innen bis hin zu Musikschulen und freien Künstler:innen.

    Selbst ist die LKB Mitgliedsorganisation der Bundesvereinigung für Kulturelle Kinder- und Jugendbildung (BKJ).

    Plattform, Stimme, Ermöglicherin

    Die LKB ist weit mehr als ein klassischer Verband. Sie ist Plattform für AustauschStimme gegenüber Politik und VerwaltungImpulsgeberin für neue Projekte und Trägerin kultureller Freiwilligendienste. Ihr Leitbild gliedert sich in vier zentrale Dimensionen:

    Sichtbar machen und sichtbar sein

    Die LKB schafft Räume – analog wie digital – für interprofessionellen Austausch. In Arbeitsgruppen, Fachtagen und Austauschrunden kommen Akteur:innen aus unterschiedlichen Sparten zusammen, um voneinander zu lernen, gemeinsame Anliegen zu formulieren und neue Perspektiven zu entwickeln. Der Blick über den Tellerrand ist dabei ausdrücklich gewünscht – und notwendig.

    Stimme für das Akteursfeld

    Die LKB hört zu – und spricht. Sie sammelt Bedarfe, Herausforderungen und Visionen aus dem Feld der Kulturellen Bildung und trägt diese in politische Gremien, in die Verwaltung und in die Öffentlichkeit. Dabei versteht sie Kulturelle Bildung als Querschnittsaufgabe, die alle gesellschaftlichen Bereiche betrifft – von Schule über Jugendhilfe bis hin zur Stadtentwicklung.

    Ermöglicherin und Beraterin

    Durch die Entwicklung landesweiter Modellprojekte wie dem Kulturkoffer Hessen oder LandKulturPerlen setzt die LKB Impulse für neue Formate und Förderstrukturen. Gleichzeitig bietet sie Beratung und Orientierung – etwa als Servicestelle für das Bundesprogramm „Kultur macht stark“ oder über die Plattform „Kulturberatung Hessen“, die sie gemeinsam mit dem Landesmusikrat betreibt.

    Engagement- und Nachwuchsförderin

    Als Trägerin kultureller Freiwilligendienste fördert die LKB bürgerschaftliches Engagement und ermöglicht jungen Menschen erste Schritte in der kulturellen Praxis. Damit leistet sie einen wichtigen Beitrag zur Nachwuchsförderung – nicht nur im künstlerischen Bereich, sondern auch im Hinblick auf gesellschaftliche Teilhabe.

    All diese Aktivitäten zielen auf ein übergeordnetes Ziel: die Ermöglichung kultureller Teilhabe für alle Menschen in Hessen. Was mit dem Begriff der kulturellen Teilhabe gemeint ist, stellt die LKB Hessen in einem Video vor.

    Zwischen Kulturbetrieb und Schulbetrieb

    Im Gespräch mit Mitarbeiterinnen der LKB wurde deutlich: Die LKB ist ein Netzwerk – ein fein gesponnenes Netz, das Akteur:innen verbindet, Anliegen bündelt und Impulse setzt. Von der Seite der Kultur kommend, agiert sie an der Schnittstelle zwischen Kultur, Bildung und Politik und vertritt dabei die Anliegen ihrer Mitglieder. Ein Beispiel hierfür ist das Engagement der LKB in Bezug auf die Kulturelle Bildung im schulischen Ganztag: Als Vertreterin der Praxis der Kulturellen Bildung fordert sie:

    Der LKB Hessen greift die politische Debatte und Entwicklung zur flächendeckenden Ganztagsbetreuung in Schule auf und bringt im Interesse der Kunst- und Kulturschaffenden sie mögliche Kooperationspartner des Kulturellen Ganztags ins Spiel: Dabei geht es nicht nur um die Integration kultureller Angebote in den schulischen Alltag, sondern auch um eine strukturelle Öffnung von Schule hin zu außerschulischen Partner:innen.

    Für eine Kulturelle Bildungspraxis verfolgt die LKB Hessen drei zentrale Ziele:

    • Freie Entwicklung und Entfaltung der eigenen Persönlichkeit
    • Kulturelle Teilhabe
    • Mitgestaltung der eigenen Lebens(um)welt

    Wie sehr sich die LKB Hessen hier als Interessensvertretung der Kunst- und Kulturszene engagiert, geht aus einem Papier hervor, dass sie im Rahmen einer von der GEW veranstalteten Tagung veröffentlicht hat. Hier schreibt die LKB eindeutig, dass die Konzeptionierung des schulischen Ganztags klar vom Interesse der Kinder und nicht aus arbeitsmarktpolitischem „Kalkül“ heraus gedacht werden solle. Dies funktioniere aber nur in der Verzahnung von schulischen mit außerschulischen Angeboten, womit sich die LKB eindeutig gegen mögliche Einflüsse von Wirtschaftsunternehmen in Schule und Bildung positioniert.

    Doch halt!

    Was unterscheidet eigentlich grundsätzlich den Kultur- vom Wirtschaftsbetrieb? Warum sollen arbeitsmarktpolitische Einflüsse so schlecht sein? So oder so: Es handelt es sich erstmal um äußere Einflüsse, die versuchen, in das fast schon hermetisch abgeschlossene System Schule hineinzukommen und ihre Ideale und Überzeugungen dort hineinzutragen. Fast schon könnte man meinen, sie wollten das Schulsystem infiltrieren.

    In dem Papier der GEW-Hessen fordert die LKB Hessen klar die fachliche Anerkennung der Expertise und feldspezifischen Zertifizierungen, die als Basis für eine Kooperation auf Augenhöhe mit fairer Vergütung und sicheren Rahmenbedingungen dient. Gemeint ist damit die Forderung, Akteure des außerschulischen Bildungsfeldes wie Musik-, Medien- und Museumspädagog:innen in der Gestaltung des schulischen Ganztags als den Lehrer:innen gleichwertig zu betrachten. Den außerschulischen Akteuren soll damit also pädagogische Expertise zugeschrieben werden, die der der ausgebildeten Lehrkräfte ähnlich ist.

    In meiner beruflichen Tätigkeit habe ich viele Projekte mit außerschulischen Partnern umgesetzt: Von der Hochschule über das Museum bis hin zum freischaffenden Künstler war alles dabei. Und doch habe ich jedes Mal feststellen müssen, dass die schulischen Abläufe, Regeln, Bedingungen und Vorgaben viele nicht-schulische Akteure vor eine große Herausforderung stellen, der sie mal besser, mal schlechter begegnen. In Bezug auf den schulischen Bildungssektor bleibt für mich fraglich, ob hier wirklich eine vergleichbare Qualifikation und Expertise vorliegt.

    Zudem spüre ich persönlich etwas Unbehagen in meiner Funktion als Lehrer, der mit Musik ein künstlerisches Lehramt studiert und darüber hinaus zwei weitere künstlerische Abschlüsse in Chor- und Orchesterleitung hat und im individuellen wie professionellen Interesse zurzeit berufsbegleitend einen Master in „Kulturelle Bildung an Schulen“ macht, wenn gute Kulturelle Bildung nur von „künstlerischem“ Personal geleistet werden können soll – zu dem ich (weil ich als Lehrer und nicht als Künstler arbeite) offiziell nicht zähle. Warum soll nicht auch sich selbst gute Kulturelle Bildung in Schule ermöglichen? – Vielleicht kann ich es ja durch meine diverse Schnittstellenprofessionalität sogar besser!?

    Ich frage mich, …

    • … ob der (durchaus auch arbeitsmarktpolitische) Sektor der Kulturellen Bildung mit anderen Interessensgruppen darum konkurriert, die eigenen Ideen und Vorstellungen in schulischer Bildung zu verorten?
    • … ob gute Kulturelle Bildung nicht auch ohne den außerschulischen Sektor funktionieren kann?
    • … wie sich Schule verändern könnte, wenn es der LKB gelinge, einen „Fuß in die Tür“ zu bekommen und das fast schon hermetisch abgeschlossene und zweifelsohne überholte Schulsystem zu „infiltrieren“.

    Die Hoffnung bleibt!

    Die LKB ist kein Dienstleister der Bildungspolitik – und will es auch nicht sein. Doch sie ist eine kraftvolle Impulsgeberin, die mit klarem Kompass und großer Vernetzungsstärke agiert. Vielleicht gelingt es ihr, über den Kulturellen Ganztag auch in den Unterricht hineinzuwirken – und so das System Schule von außen zu verändern. Es bleibt jedoch schwer, einen solchen Wandel nur von einer Seite herbeizuführen. Doch auch da hat das Netzwerk der LKB Partner wie den BMU (Bundesverband Musikunterricht), der näher an der schulischen Bildungspolitik und damit auch der Lehramtsausbildung ist.

    Die Hoffnung bleibt also, dass sich das Netz weiter ausbreitet, dass Schule sich öffnet – und dass Kulturelle Bildung nicht länger ein Randthema bleibt, sondern zum selbstverständlichen Bestandteil guter Bildung wird. Und die Landesvereinigung Kulturelle Bildung Hessen e.V. kann hier durch ihre starkes Netzwerk und ihre Kontakte in die Kultur-, Bildungs- und Politiklandschaft einen wesentlichen Beitrag leisten.

    Und obwohl die LKB Hessen in meinem beruflichen Alltag als Lehrer vielleicht eine eher untergeordnete Rolle spielen mag, ist es ein gutes Gefühl zu wissen, dass es mit ihr ein starkes Netzwerk gibt, das im Kern die gleichen Ziele verfolgt – nur eben von einer anderen Seite aus. Und vielleicht mag genau darin die große Stärke liegen: das System Schule von verschiedenen Seiten und Richtungen aus zu verändern.

  • M/Faking City Life – Szenen einer Großstadt

    Ein Erfahrungsbericht aus dem fachfremden Unterricht in Darstellendem Spiel

    Im letzten Schulhalbjahr durfte – und musste – ich zum ersten Mal das Fach Darstellendes Spiel im Rahmen des Wahlpflichtunterrichts der Jahrgangsstufe 10 unterrichten. Ein Kollege hatte seinen Auslandsschuldienst angetreten, und so wurde ich gefragt, ob ich übernehmen könne. Ich denke, dass die Wahl auf mich fiel, weil ich durchaus ein grundsätzliches Interesse an diesem Fach habe. Doch eine Fort- oder Weiterbildung in diesem Bereich habe ich bislang nicht gemacht. Ich habe es also ein halbes Jahr lang fachfremd unterrichtet – mit allem, was dazu gehört.

    Fremdheit zwischen Improvisation und Irritation

    Ich startete mit einem klassischen Einstieg: Übungen zu Improvisation, Bühnenpräsenz, neutralem Gang, Sprache, Raumwahrnehmung und peripherem Blick. Ich hatte mir einen Plan zurechtgelegt, der auf theaterpädagogischen Grundlagen beruhte – und doch merkte ich schnell: Etwas passte nicht. Die Motivation der Schüler:innen sank von Woche zu Woche. Ich spürte eine wachsende Irritation – bei ihnen und bei mir.

    Im Gespräch mit der Gruppe wurde deutlich: Für etwa die Hälfte war Darstellendes Spiel nur die Ersatzwahl. Sie hatten sich ursprünglich für andere Kurse entschieden, wurden aber aufgrund zu hoher Anmeldezahlen nicht aufgenommen – und so sind sie in DS „gestrandet“.

    Für die Schüler:innen war die Gesamtsituation eine Fremdheitserfahrung, der sie sich nicht öffnen konnten. Vielleicht auch, weil sie sich schämten? Ich entschied mich also, meine Pläne über Bord zu werfen.

    Fremdheitserfahrungen bezeichnen in der Kulturellen Bildung Momente, in denen Menschen mit etwas konfrontiert werden, das ihnen zunächst ungewohnt, irritierend oder widersprüchlich erscheint – sei es ein ästhetisches Ausdrucksmittel, eine neue Perspektive, eine ungewohnte Rolle oder ein kultureller Kontext. Diese Erfahrungen lösen oft Unsicherheit oder Irritation aus, können aber zugleich produktive Lernprozesse anstoßen.

    In der Auseinandersetzung mit dem „Fremden“ – im Sinne des Nicht-Vertrauten – entsteht ein Raum, in dem gewohnte Denk- und Handlungsmuster hinterfragt und neue Sichtweisen entwickelt werden können. Fremdheitserfahrungen sind damit Schlüsselprozesse ästhetischer Bildung: Sie fordern heraus, regen zur Reflexion an und eröffnen Möglichkeiten zur Selbstveränderung.

    In pädagogischen Kontexten bedeutet das: Lehrende müssen nicht alle Unsicherheiten auflösen, sondern können gezielt Räume schaffen, in denen Schüler:innen sich mit dem Unvertrauten auseinandersetzen – sei es in einem Theaterprojekt, beim Perspektivwechsel in einer Performance oder im Umgang mit neuen Medienformen. Entscheidend ist, dass diese Erfahrungen begleitet, reflektiert und ernst genommen werden.

    Dank meines Studiums der „Kulturellen Bildung an Schulen“ an der Philipps-Universität Marburg war ich auf eine solche Fremdheitserfahrung eingestellt, hatte sie bereits kennengelernt – und mich selbst, wie ich in einer solchen Situation agiere. Ich hatte also glücklicherweise bereits gelernt, das Unbekannte freudig zu erwarten.

    Alles auf Anfang – und dann: Kamera läuft!

    Gemeinsam mit dem Kurs beschlossen wir, statt einer Bühnenaufführung einen Kurzfilm zu drehen – mit iPads, zum Thema Scripted Reality. Die Idee kam gut an – zumindest bei denen, die eher unfreiwillig im Kurs waren. Diejenigen, die gerne Theater spielen wollten, waren enttäuscht. Die Gruppe war wieder geteilt – nur diesmal andersherum.

    Ich arbeitete einen klaren Fahrplan aus:

    • 3 Doppelstunden zur Entwicklung der Figuren und der Handlung
    • 2 Doppelstunden zum Schreiben der Dialoge
    • 2 Doppelstunden zur Erstellung des Storyboards
    • 3 Doppelstunden zum Drehen des Films
    • 1 Doppelstunde zur Präsentation und Besprechung

    Danach sollte alles „im Kasten“ sein. Die Schüler:innen bildeten Gruppen und legten los. Schnell zeigte sich: Manche Gruppen wollten den Plan nicht einhalten. Sie wollten sofort drehen, ohne Drehbuch, ohne Storyboard. Ich hatte Bedenken – aber ich ließ sie machen.

    Und dann geschah etwas Unerwartetes: Die zuvor passiven Schüler:innen arbeiteten mit neuer Motivation. Sie trafen sich außerhalb des Unterrichts, schnitten Szenen, planten Requisiten, suchten Drehorte. Die Deadline war klar – das Schuljahresende ließ sich nicht verschieben. Und plötzlich war da Energie im Raum.

    Sechs Filme – sechs Perspektiven auf das Großstadtleben

    Am Ende entstanden sechs Kurzfilme – und alle Gruppen präsentierten wirklich tolle Ergebnisse: Von dem Tankstellenüberfall, über das Familiendrama mit Therapiesitzung bis hin zur actiongeladenen Verfolgungsjagd im Bahnhofsviertel war alles dabei. Szenen, die so oder so ähnlich in Frankfurt hätten stattfinden können – und vielleicht sogar stattgefunden haben. Die Filme waren nicht perfekt. Aber sie waren echt. Und sie waren das Ergebnis eines Prozesses, den die Schüler:innen selbst gestaltet hatten.

    Was ich selbst gelernt habe

    Ich habe gelernt, dass pädagogische Planung wichtig ist – aber nicht alles. Ich hatte keinen „Werkzeugkoffer“ für spontane Improvisation im DS-Unterricht. Und trotzdem habe ich mich darauf eingelassen, meine Pläne zu verwerfen und gemeinsam mit der Gruppe einen neuen Weg zu gehen. Aus der Fremdheitserfahrung einer kleinen Schüler:innengruppe ist eine Fremdheitserfahrung der Gesamtgruppe geworden – einschließlich mir als Lehrer. Und so konnten wir mit- und voneinander lernen.

    Ich habe gelernt, dass Schüler:innen kreativ, engagiert und lernbereit sind – wenn sie das Gefühl haben, dass es um etwas geht, das mit ihnen zu tun hat.

    Ich habe gelernt, dass ich nicht alles kontrollieren muss. Dass es okay ist, wenn ich nicht mehr der bin, der sagt, was zu tun ist – sondern der, der fragt, was er tun kann, um zu helfen.

    Ich habe gelernt, dass ästhetisch-kreative Bildung Räume braucht: Räume, in denen junge Menschen sich ausprobieren dürfen. Räume, in denen Fehler erlaubt sind. Räume, in denen Lehrer:innen nicht alles wissen müssen – aber bereit sind, gemeinsam zu lernen.

    Und ich habe gelernt, dass es manchmal reicht, den Rahmen zu gestalten – und dann loszulassen.

    Ich wünsche mir, dass jede:r Kolleg:in mindestens einmal eine solche Erfahrung machen darf. Es verändert den Blick auf das eigene Tun immens.

    In einer Welt, die sich zunehmend schneller dreht und wir weniger Zeit haben, uns und andere(s) kennenzulernen, muss schulische Bildung die Fremdheitserfahrung in den Fokus des Erlebens stellen, damit wir lernen, das Fremde zu gestalten.

  • Ein Tag „Unter Pflanzen“

    Zu Gast im Museum Sinclair-Haus Bad Homburg

    In dieser Woche durfte ich eine kleine Reise nach Bad Homburg unternehmen. Mein Ziel: Das Museum Sinclair-Haus der Stiftung Kunst und Natur. Idyllisch zwischen der neo-romanischen Erlöserkirche und dem Schloss Bad Homburg an der Ecke Löwengasse/Dorotheenstraße liegt das 1708 als Wohnhaus für den Regierungsrat Hessen-Homburgs, Geschichtsforscher und Entdecker des Römerkastells Saalburg Elias Neuhof (1724-1799) gebaute Ausstellungshaus. Vom Unternehmer Herbert Quandt 1978 vor dem Abriss gerettet und von der Altana AG erworben, wurde es aufwändig restauriert und schließlich nach Isaac von Sinclair (1755-1815), einem in Bad Homburg geboren und eng mit dem Dichter Friedrich Hölderlin (1770-1843) befreundeten Schriftsteller und Diplomaten, benannt. Seit 1982 widmet sich das Museum in wechselnden Ausstellungen inter-/nationaler Kunst des 20./21. Jahrhunderts zum Schwerpunktthema „Natur“. 2017 wurde das Museum Teil der seit 2021 unter dem Namen „Stiftung Kunst und Natur“ firmierenden Stiftung der Unternehmerin Susanne Klatten.

    Am Morgen: auf Erkundungstour durch das Museum

    Zu Beginn des Tages durfte ich mich alleine im leeren – weil für den Publikumsverkehr noch nicht geöffneten – Museum umschauen. Allein das war für mich ein besonderes Erlebnis. Die aktuelle Ausstellung heißt „Unter Pflanzen“. Sie lädt dazu ein, langsam zu werden, den Pflanzen zu begegnen, ihnen zu lauschen. Sie regt dazu an zu reflektieren, dass wir ständig unter Pflanzen sind: Wir essen sie, wir sehen sie, wie spüren sie, wir riechen sie – wir sind mit ihnen verbunden, und doch manchmal so entfremdet. Die ausgestellten Werke und Installationen zeigen Pflanzen als lebendige, wahrnehmende Wesen, die unzhlige Verbindungen eingehen: Manche Werke erforschen den Einfluss der Pflanzen auf menschliche Kulturen, andere entwerfen Pflanzen-Menschen-Hybride und erkunden, wie nah oder fern wir uns eigentlich sind. Bei der Ausstellung handelt es sich um eine Kooperation zwischen dem Museum Sinclair-Haus und dem von Yvonne Volkart geleiteten Forschungsprojekt „Plants_Intelligence. Learning Like a Plant“, das am Institut „Kunst Gender Natur“ der Hochschule für Gestaltung und Kunst Basel FHNW verortet und vom Schweizerischen Nationalfonds finaniziert ist.

    Besonders beeindruckend finde ich die Darstellung der Amarant-Pflanze, an der ich lange stehen bleibe: Irgendwie kann ich mich nicht des Gedankens erwehren, dass sie der von Johann Wolfgang von Goethe beschriebenen „Urpflanze“ sehr ähnelt. Und sogleich kommt mir Goethes „Metamorphose der Pflanze“ in den Kopf – ein Text, der mich den Tag über und beim Schreiben dieses Blogbeitrags noch begleitet.

    Erstellt mit KI
    Quelle: Microsoft Copilot

    Kristine Preuß, die Leiterin der Kunstvermittlung gab mir im Gespräch Einblicke in die Struktur des Hauses und die pädagogische Arbeit: Wir sprachen über die Struktur der Stiftung und wie sich der Wandel von der fördernden Altana-Stiftung hin zur operativen Stiftung Kunst und Natur auf die Vernetzung und Zusammenarbeit mit Schulen auswirkt. Konnten zuvor noch echte Patenschaften zwischen dem Museum und den umliegenden Grund- und weiterführenden Schulen gepflegt werden, konzentriert sich das Haus nun zunehmend auf die eigenen Angebote und hat weniger Möglichkeiten, langfristige schulische Bildungsprojekte zu begleiten.

    Mit dieser strukturellen Veränderung ging auch eine strategische Neuausrichtung einher: Aus dem aufsuchenden Museum wurde zunehmend ein einladendes Haus.

    Entsprechend veranstaltet das Museum neben den Wechselausstellungen auch Workshops für Kindergarten- und Schulkinder, Freiluftateliers, Führungen und Gesprächsrunden, philosophische Streifzüge, Lesungen, Tanzvorführungen, Rollenspiele, Kurse zum kreativen Gestalten und vieles mehr. Außerdem gibt das Museum zu jeder Ausstellung das hauseigene Ideenheft „Blattwerke“ heraus und produziert den Podcast „Art’n’Vielfat – Der Podcast für Kunst und Natur“.  Für so ein kleines Haus mit nur wenigen Mitarbeitenden empfinde ich das Angebot als breit und divers und im stetigen Wandel stehend: eben so, wie die Hauptakteure des Museums, die Pflanzen, selbst. Dabei schottet sich das Museum durch seine Vermittlungsabteilung aber nicht von seiner Außenwelt ab: Vielmehr agiert es kreativ in dem Spannungsfeld zwischen einladend und aufsuchend, indem es zwar eigene Formate entwickelt, konzipiert und realisiert. Genauso gehen die Mitarbeiter:innen aber – im konkreten Fall dieses Workshoptages – in das Wohnheim der Kinder, bewirbt das Angebot dort und holt sie dort auch ab – um sie zu sich ins Museum zu führen.

    Aufsuchend bedeutet im Bereich der Kulturellen Bildung, dass Bildungs- und Kulturinstitutionen aktiv auf Menschen zugehen – insbesondere auf solche, die sonst schwer Zugang zu kulturellen Angeboten finden. Dies kann durch mobile Formate, Kooperationen mit Schulen, sozialen Einrichtungen oder durch Projekte im öffentlichen Raum geschehen. Ziel ist es, Teilhabe zu ermöglichen und Schwellen abzubauen.

    Einladend beschreibt eine Haltung und Gestaltung kultureller Bildungsangebote, die Menschen ermutigt, freiwillig teilzunehmen. Dies zeigt sich z. B. in einer offenen Atmosphäre, barrierearmen Zugängen, diversitätssensibler Kommunikation und partizipativen Methoden. Einladende Angebote schaffen Räume, in denen sich Menschen willkommen, gesehen und angesprochen fühlen.

    Am Mittag: ästhetische Erfahrungen zwischen Kunst und Natur – drei Workshops für eine Gruppe geflüchteter Kinder

    Am Mittag wurde Kristine Preuß von ihrer Mitarbeitern Ann-Cathrin Agethen und einer weiteren freien Mitarbeiterin bei der Durchführung dreier Workshops für eine Gruppe geflüchteter Kinder unterstütz. Insgesamt durften die Kinder in drei Formaten ästhetische Erfahrungen zum Thema Natur machen, indem sie sich der Natur ganz spielerisch und kreativ-bildend durch Anähnelung, Verarbeitung und Erschaffung genähert haben.

    Workshop #1: Reproduktion der Natur als Kunst – Blätter aus Ton

    Bei diesem Workshop durften die Kinder Blätter in ihren verschiedenen Formen erkunden, indem sie sie mit Ton nachgebildet haben. Am Ende sollte dadurch in kooperativer Weise ein Mobile entstehen, das die Kinder in ihre Flüchtlingsunterkunft mitnehmen durften. Es war toll, die Kinder dabei zu beobachten, wie akribisch sie versuchten, die Natur nachzubilden. Und zugleich war es ergreifend, als eines der Kinder sagte, dass man es irgendwie nicht so perfekt wie die Natur hinbekomme.

    Mir stellte sich dann sofort die Frage, ob das unser Anspruch sein soll und kann: die Natur perfekt ab- und nachbilden? In der Ausstellung ging es ja auch nicht (immer) darum, die Natur perfekt wiederzugeben. Der künstlerische Umgang ermöglicht ja gerade, von vorgegebenen Mustern abzuweichen, eigene Schwerpunkte zu setzen und auch zu verfremden, um die eigene Perspektive zu verdeutlichen. Gerade darin besteht doch das große Potenzial künstlerischer Forschung: den subjektiven Eindruck zum Ausdruck zu machen. Vielleicht ist die ästhetische Forschung hier dem künstlerischen Impressionismus sehr nahe?

    Ein anderes Kind sagte übrigens dazu, dass sie das auch gar nicht perfekt machen müssten – sie seien ja schließlich Kinder. Auch dieser Satz hat mich nachdenken lassen, denn warum muss man denn nur als Kind nicht perfekt sein? Ich wünsche mir, das auch als Erwachsener nicht sein zu müssen – und doch spürt man in der sich stetig ökonomisierenden Welt, dass Funktionalität (und das heißt nichts anderes als systemische Perfektion) zu einem gesellschaftlichen Anspruch geworden ist. Dabei sind es doch gerade die unperfekten Dinge, die uns im Leben zum Lachen, Weinen, Staunen und Nachdenken – schlicht zum Denken – bringen.

    Wir sollten versuchen, das Unperfekte, das Besondere wieder zuzulassen. So kommen wir wieder ins Staunen. So gelingt es uns wieder, uns mit uns selbst, den Menschen und der Natur zu vernetzen.

    Beschwingt und mit einem großen Grinsen verlasse ich den Raum, als ich sehe, dass ein Junge lieber eine Pizza statt eines Blattes aus dem Ton geformt hat: Hier hat sich jemand über gesellschaftliche Vorgaben hinweggesetzt und in seiner eigenen Freiheit dem nachgespürt, was ihn gerade jetzt beschäftigt.

    aus:
    Johann Wolfgang von Goethe: Die Metamorphose der Pflanzen

    Workshop #2: Kreation mit Natur als Kunst – Gemälde aus Pflanzenfarben

    Im zweiten Workshop durften die Kinder aus selbst hergestellten Pflanzenfarben Gemälde anfertigen. Dazu wurden Blüten, Samen, Beeren, Früchte, Pulver und vieles mehr in Wasser, Laugen und Kleister aufgelöst. Sogar Rindenschnitzel wurden ausgekocht. Beeindruckend war, wie kräftig so manche Farbe war.

    Mir kam sofort die Idee, das mit dem Deutschunterricht zu verknüpfen: Welch schöner und ganzheitlicher Zugang wäre es, diese Art der Verarbeitung der Pflanze in Form von kleinen Gedichten zu versprachlichen und so schöne lyrische Schmuckblätter zu produzieren. Die Pflanze, die inhaltlich im Fokus steht, könnte sowohl sprachlich als auch gestalterisch erforscht werden. Ja selbst der Prozess der Farbherstellung könnte dichterisch verarbeitet werden: Warum färben Blaubeeren so viel kräftiger als Lindenrinde? Oder warum benötigt Lindenrinde, um ihre Kraft zu entfalten, von außen zugesetzter Energie in Form von heißem Wasser? Was haben die Pflanzen bereits erlebt, das sie nun freigeben?

    Womit ich gar nicht gerechnet habe ist, dass durch die Verwendung von Pflanzenfarben nicht nur visuelle, sondern auch olfaktorische Gemälde entstanden sind: Bislang habe ich noch nie an einem Bild gerochen. Doch diese Bilder können riechen. Die Kinder haben etwas geschafft, über das ich zuvor noch nie nachgedacht habe: echte synästhetische Kunst.

    Und zugleich wird mir bewusst, dass diese Kunst auch sehr vergänglich sein wird, denn ohne Konservierungsstoffe werden diese Bilder mit der Zeit verbleichen und vielleicht sogar anfangen zu faulen. Aber auch das scheint mir eine befreiende Gegenbewegung zur konservatorischen Behandlung unserer „hochkulturellen“ Kunst zu sein: Gehen und vergehen ist das Natürlichste auf der Welt – es ist der Kreislauf des Lebens. Und doch halten wir Menschen gerne an dem fest, was uns etwas bedeutet. Wir lassen es nicht los, weil wir es bewahren wollen.

    aus:
    Johann Wolfgang von Goethe: Die Metamorphose der Pflanzen

    Workshop #3: Produktion von Natur als Kunst – Pflanzen einer Sonnenblume

    Der letzte Workshop bestand darin, die Ausstellung zu erkunden und in die Welt der Pflanzen – und dem, was unter ihnen ist und wir für gewöhnlich nicht sehen – zu erkunden. Anschließend haben die Kinder zusammen Sonnenblumen gepflanzt. Eigentlich ist das ja keine schwierige Angelegenheit, einen Samen in die Erde zu stecken und vorsichtig anzugießen. Doch glaube ich, mehr als das gesehen zu haben: Spannend waren dabei nämlich die Gespräche zwischen den Kindern, die wieder aus unserem Muster ausbrachen und die Sonnenblumenkerne aßen. Das Bild, das sich ergeben hat, empfand ich selbst als sehr poetisch: Zwar sind die Samen zunächst in isolierten Pflanzschalen, um in einem geschützten Raum keimen zu können. Doch sehr bald werden sie gemeinsam eingepflanzt werden können. Und so wird aus zarten Einzelgängern mit viele Liebe und Pflege später mal eine starke Gemeinschaft werden.

    aus:
    Johann Wolfgang von Goethe: Die Metamorphose der Pflanzen

    Inspiriert von der Natur, der wohl größten Gemeinschaft unserer Welt, fanden diese Kinder zu sich und tauschten sich aus. Sie waren unter sich – und „Unter Pflanzen“.

    Am Nachmittag: raus in die Natur! – das Freiluftatelier vor dem Bad Homburger Bahnhof

    Am Nachmittag besuchte ich das Freiluftatelier des Museums am Bad Homburger Bahnhof. Das Freiluftatelier ist eine Aktion des Museums, die von Mai bis September jeden Mittwoch von 15-18 Uhr am Bahnhof in Bad Homburg zu finden ist. Dort bieten zwei bis drei freiberufliche Künstler:innen Bastelworkshops zu verschiedenen Themen an: Farbe aus Pflanzen herstellen und damit malen, zeichnen oder färben, Fantasiepflanzen bauen und drucken, Pflanzenkostüme entwerfen, grüne Städte erdenken, von Pflanzenträumen schreiben, mit dem Sonnenlicht fotografieren und andere Experimente.

    Nicht zu verfehlen war zwischen zwei gelben Flaggen eine Bierzeltgarnitur und mehrere kleine Tische und Stühle aufgebaut. Darauf lagen alle möglichen Bastel- und Naturmaterialien.

    Ab 15 Uhr kamen Kinder mit ihren Eltern vorbei, und bastelten dort das, worauf sie gerade Lust hatten: Entstanden sind Collagen aus Blättern, Zauberstäbe, Haarspangen und „Fascinator“.

    Ich empfand es als unglaublich befriedigend, den Kindern und Jugendlichen dabei zuzuschauen, wie sie aus den Naturmaterialien die fantasievollsten Gegenstände gestalteten.

    Was bleibt von diesem Tag?

    Ich fand diesen Tag unglaublich beeindruckend. Ich habe so vieles gesehen und gehört, das mich auch noch Tage danach begleitet und beschäftigt. Was genau mir von diesem Tag bleibt, vermag ich heute noch nicht zu sagen. Vielleicht muss ich das aber auch nicht: Vielleicht ist es gut, wenn meine Gedanken noch ein wenig als lose Fäden in meinem Netz umherwandern und ich ihnen jene Freiheit erlaube, die ich an diesem besonderen Tag bei den Kindern mit Freude beobachtet habe.

    Wie schön wäre es, wenn Kinder in Schule und Unterricht genau so unbefangen und frei lernen könnten, wie diese Gruppe es nun erleben durfte.

    Wie schön wäre es, wenn wir uns mehr an der Natur und ihrer Entwicklung orientieren würden und den Kindern ermöglichten, sich wie ein Blatt zu entfalten.

    Für uns als Lehrkräfte bedeutet das aber auch eine veränderte Rolle und Aufgabe.

  • Kreativität trifft Kompetenz

    Ein Tag zwischen Bühne, Beratung und Bildung

    Wie viel Bühne steckt im Unterricht?
    Wie bewertet man Kreativität fair?
    Und was passiert, wenn Schüler:innen ihre eigene Welt auf die Bühne bringen?


    Diese Fragen begleiteten mich an einem Tag voller Eindrücke, Inspirationen und fachlicher Tiefe – bei der regionalen Fachberaterin für Darstellendes Spiel in Rheinland-Pfalz und im Schulfach Kultur am Geschwister-Scholl-Gymnasium Daun.

    Vormittag: Wo Unterricht zur Inszenierung wird

    Der Tag begann mit einem Blick hinter die Kulissen der Fachberatung Darstellendes Spiel. Schon beim ersten Gespräch wurde klar: Hier geht es nicht nur um Theater – es geht um Ausdruck, Haltung, Präsenz und die Kunst, Lernprozesse sichtbar zu machen.

    Besonders spannend war der Einblick in das mündliche Abitur im Fach Darstellendes Spiel. Prüfungsformate wie szenische Gruppenarbeiten, performative Monologe oder interaktive Präsentationen zeigen, wie vielfältig und anspruchsvoll dieses Fach ist. Doch wie bewertet man eine Performance? Wie unterscheidet man zwischen künstlerischer Freiheit und prüfungsrelevanter Leistung?

    Die Antwort: mit einem mehrdimensionalen Bewertungskonzept, das nicht nur das Ergebnis, sondern auch den Weg dorthin würdigt. Kreativität wird hier nicht als Zufallsprodukt verstanden, sondern als kompetenzorientierter Prozess, der planbar, reflektierbar und entwickelbar ist. Bewertet werden unter anderem:

    • Körperlicher und stimmlicher Ausdruck
    • Gestalterische Entscheidungen
    • Kooperationsfähigkeit
    • Reflexionskompetenz

    Ein Highlight war die Vorstellung von Unterrichtsreihen, die sich wie Dramaturgien entfalten: vom Warm-up über Improvisation bis hin zur Inszenierung. Besonders eindrucksvoll: eine Sequenz zur „körperlichen Präsenz im Raum“, bei der Schüler:innen lernen, mit Spannung, Blickführung und Raumwegen zu arbeiten – ganz ohne Worte, aber mit maximaler Wirkung.

    Vormittag: Wo Unterricht zur Inszenierung wird

    In einer kollegialen Fallberatung wurde ein reales Unterrichtsproblem diskutiert: mangelnde Beteiligung einzelner Schüler:innen in Gruppenprozessen. Was folgte, war ein Paradebeispiel für professionelle Zusammenarbeit: Hypothesen wurden gesammelt, Perspektiven gewechselt, kreative Lösungen entwickelt – von Rollenrotation über gezielte Aktivierungsübungen bis hin zu Feedbackmethoden mit Videoanalyse.

    Diese Form der Beratung war nicht nur praxisnah, sondern auch ein starkes Plädoyer für kollektive Unterrichtsentwicklung: gemeinsam denken, gemeinsam wachsen.

    Nachmittag: Kulturunterricht am GSG Daun – Bühne der Persönlichkeiten

    Am Nachmittag wechselte ich die Perspektive – von der Beratung in den Unterricht. Im Schulfach Kultur der Orientierungsstufe am GSG Daun wurde ich Zeuge eines Unterrichts, der mehr war als nur Fachvermittlung: Er war ein Raum für Selbstentfaltung.

    Das Thema der Stunde: „Meine Welt – meine Bühne“. Die Schüler:innen entwickelten kurze Szenen, in denen sie persönliche Erlebnisse, Träume oder Konflikte performativ umsetzten. Die Bühne wurde zum Spiegel ihrer Innenwelt – mal leise, mal laut, mal nachdenklich, mal humorvoll. Was mich besonders beeindruckte: die wertschätzende und differenzierte Rückmeldung der Lehrkraft. Statt Noten gab es Feedback zu Ausdruck, Klarheit, Kreativität und Teamarbeit. Die Schülerinnen führten Lerntagebücher, reflektierten ihre Entwicklung und wurden so zu aktiven Gestalterinnen ihres Lernprozesses.

    Ein Tag voller Impulse – und ein Plädoyer für mehr Bühne im Schulalltag

    Dieser Tag hat mir gezeigt, wie kraftvoll kulturelle Bildung sein kann – wenn sie ernst genommen, professionell begleitet und kreativ gestaltet wird. Ob im Abitur oder in der Orientierungsstufe: Darstellendes Spiel und Kultur sind keine „Nebenfächer“, sondern Räume für Persönlichkeitsbildung, Ausdruck und soziale Kompetenz.

    Ich nehme viele Impulse mit – für meinen eigenen Unterricht, für die kollegiale Zusammenarbeit und für die Frage, wie wir Schule als Ort der Entfaltung gestalten können.

  • „Another Brick in the Wall“?

    Manchmal braucht es Schüler:innen, um die eigene Rolle zu hinterfragen

    Schulkonzerte sind etwas Schönes. Sie bedeuten im Vorfeld zwar unglaublich viel Arbeit – Proben organisieren, Stimmen einstudieren, Technik koordinieren, Nerven behalten. Und doch weiß man an dem Abend, wenn man in die erfüllten, glücklichen und stolzen Gesichter der Schüler:innen blickt: Es hat sich gelohnt.

    Und dann tritt die Abiband auf: Eine selbstformierte Gruppe von Schüler:innen, die am selben Morgen ihr Abiturzeugnis erhalten haben. Der Frontsänger kündigt an, dass sie das heutige Konzert als ihren persönlichen Abschluss an unserer Schule sehen – und sich mit dem folgenden Song bei den Lehrkräften revanchieren möchten. Dann spielen sie: „Another Brick in the Wall“ von Pink Floyd.

    Der Song ist musikalisch stark umgesetzt. Kein Wunder also, dass das Publikum und meine Kolleg:innen den Auftritt mit bester Laune und sichtlichem Stolz würdigen.

    Quelle: YouTube (URL: Pink Floyd Another Brick In The Wall (HQ) – YouTube)

    Doch halt!

    Der Frontsänger sprach von „Revanchieren“. Für was? Und warum jetzt?

    In dem Song lehnen sich Schüler:innen gegen ihre Lehrkräfte auf – gegen ein System, das sie als kalt, zynisch und kontrollierend empfinden. Lehrkräfte, die mit Sarkasmus und Druck versuchen, junge Menschen in eine Welt der Unfreiheit und Angst zu zwingen.

    Ich saß da und stellte mir zwangsläufig die Frage, ob die Abiturient:innen ihre Lehrer:innen wirklich als kalt, zynisch und kontrollierend empfunden haben. Und dann steht dort auch ein Schüler, den ich selbst unterrichtet habe. Und so muss ich mir auch die Frage stellen: Meint er mich?

    Tausend Fragen und Gedanken schießen mir in diesem Moment durch den Kopf: Warum ist es mir – trotz aller Bemühungen – nicht gelungen, die Schüler:innen individueller zu fördern? Ich dachte eigentlich, dass wir eine gute Unterrichtsatmosphäre gehabt hätten. War meine Leistungsbewertung wirklich unfair? Warum scheinen meine Schüler:innen nicht gerne zu mir in den Unterricht gekommen zu sein? Kamen sie nur, weil sie mussten? Weil sie sonst schlechte Noten bekommen hätten? Weil sie Angst vor mir hatten?

    Ich merkte, wie ich der Band immer wieder zuhörte und in meiner Gedankenwelt aus Fragen, Vorwürfen und Selbstzweifeln versank.

    In dieser Unsicherheit suchte ich Blickkontakt zu meinen Kolleg:innen. Doch was ich sah, irritierte mich fast noch mehr: Warum nickten meine Kolleg:innen im Takt, als sei das alles ein harmloser Spaß? Warum merkten sie nicht, dass sie gerade kritisiert werden? Trifft sie der Vorwurf der Schüler:innen nicht? Sind sie sicher, dass sie nicht gemeint sein können?

    Vielleicht taten sie es, weil sie spürten, dass die Schüler:innen hier ihre Stimme gefunden haben. Vielleicht taten sie es, weil sie die Kritik anerkannten. Vielleicht taten sie es aber auch, weil sie sie nicht hören wollten.

    Solche Momente machen mich nachdenklich. Sie rütteln an meinem Berufsbild. Und manchmal ärgern sie mich auch – weil ich das Gefühl bekomme, dass viele Schüler:innen gar nicht sehen, wie sehr man selbst mit dem System hadert und ringt und wie viel Engagement über die reine „Dienstpflicht“ hinaus nötig ist, um die engen Grenzen und Mauern des Systems zu weiten und den Schüler:innen wertvolle Erfahrungen zu ermöglichen.

    Quelle: Microsoft Copilot

    Vermutlich haben die Schüler:innen mit ihrem Songbeitrag recht:

    Das Schulsystem ist eine alte, ehrwürdige Mauer – und zwar aus Granit. Sie hat bereits mehrere hundert Jahre überdauert und ist in dieser Zeit dicht und undurchlässig geworden. Und so könnte sie auch weitere hundert Jahre stabil bestehen. Und als Lehrkraft bin ich ein Stein in dieser Mauer – ob ich das will oder nicht.

    Aber wenn diese Mauer aus Granit besteht, dann möchte ich wenigstens ein Ziegel aus Kalkstein sein:

    porös, atmend, durchlässig.

    Wenn wir es schafften, uns selbst als formbaren Kalkstein zu begreifen – als Material, das sich im Laufe der Zeit verändert, das mit seiner Umwelt verwächst und sie nicht kalt und glatt wie Granit abweist –, dann könnten wir Schule von innen heraus verändern. Stein für Stein.

    Yes, I’m (just) „Another Brick in the Wall“.

    Ich bin ein Stein dieser Mauer. Und das werde ich in diesem Berufsleben wohl nicht ändern können. Aber ich kann für mich entscheiden, welcher Stein ich bin: Bin ich Granit – oder bin ich Kalkstein? Wenn schon ein Stein in der Mauer – dann einer, der atmet, porös und durchlässig ist, der sich zu seiner Umwelt außerhalb der Mauer öffnet und Öffnungen schafft und dadurch die Mauer instabil werden lässt und vielleicht irgendwann zum Einsturz bringt.

    Inzwischen ist mir bewusst, dass die Schüler:innen nicht mich persönlich gemeint haben. Sie haben das System gemeint, für das ich in gewisser Weise stellvertretend stehe. Durch ihr Abitur ist es ihnen gelungen, der Mauer aus Granit zu entkommen. Deswegen können sie auch bei diesem Schulkonzert von außen gegen die Mauer treten und ein Stück von ihr zum Einsturz bringen. Hätten sie das zuvor gewagt, als sie noch von der Mauer umringt waren, wären sie Gefahr gelaufen, dass Teile der Mauer auf sie hinunterfallen und sie verletzen.

    Ich bin froh, dass die Schüler:innen den Mut gehabt haben, diesen Song zu singen und ich danke ihnen sehr für diesen Impuls. Und vielleicht haben sich meine Kolleg:innen an diesem Abend ähnliche Gedanken gemacht wie ich.

    Vielleicht sind in der Mauer längst andere Kalksteinziegel verbaut.

    Vielleicht sind wir mehr, als ich denke.

  • Der Lehrer als Gärtner

    Schulische Bildungsarbeit als Wachsenlassen in einer „klug geregelten Freiheit“, oder:
    Was sich Schule vom Ansatz der Permakultur abschauen kann!

    Woher kommt die Metapher des Lehrers als Gärtner?

    Die Metapher des Pädagogen als Gärtner lässt sich historisch besonders stark auf Jean-Jacques Rousseau zurückführen. In seinem Werk Émile oder Über die Erziehung (1762) beschreibt er Erziehung als einen Prozess, bei dem das Kind nicht geformt, sondern in seiner natürlichen Entwicklung begleitet und geschützt werden soll und vergleicht dabei das Kind mit einer Pflanze:

    „Respektiert die Kindlichkeit und beurteilt sie nicht voreilig – weder im Guten noch im Schlechten. Lasst den Ausnahmen Zeit, sich anzukündigen, erkannt und bestätigt zu werden, bevor ihr besondere Methoden auf sie anwendet. Gebt der Natur genug Zeit zu handeln, bevor ihr darangeht, an ihrer statt zu handeln, aus Furcht, ihr Wirken zu durchkreuzen“

    So wie die Pflanze einen eigenen Wachstumstrieb besitze, ist auch das Kind von Natur aus grundsätzlich gut und bestrebt zu wachsen und sich zu entwickeln. Eine Pflanze werde nicht größer, wenn man sie mit Gewalt aus der Erde zieht – vielmehr beraube man sie dadurch ihrer Lebensgrundlage. Entsprechend erfahre auch das Kind keine positive Entwicklung, wenn man es „er-zieht“.

    Rousseau vertritt die Auffassung, dass jede Entwicklung ein individueller Prozess sei, der vor allem Zeit brauche und sich nicht steuern ließe. Zwar mögen mehrere Pflanzen den gleichen Bedingungen ausgesetzt sein, doch reagiere jede Pflanze anders darauf: Was für die eine Pflanze zu viel Wasser oder Sonne sein mag, könnte für die andere zu wenig sein. Aus diesem reformpädagogischen Ansatz entwickelt Rousseau eine organische Sichtweise auf die Bildung von Kindern und begründet damit die Metapher der Lehrkraft als Gärtner, der eben nicht – wie in klassischen Bildungstheorien der Pädagoge als Bildhauer – das Kind als formbares Material oder unbeschriebenes Blatt ansieht, sondern seine Aufgabe darin sieht, die Kinder in ihrer natürlichen Entwicklung bestmöglich und individuell zu unterstützen: Der Erzieher solle nicht formen, sondern Rahmenbedingungen schaffen, in denen das Kind sich selbst entfalten kann – wie ein Gärtner, der den Boden bereitet, aber das Wachstum nicht erzwingt.

    Die Realität der pädagogischen Gärtner

    Die meisten Lehrer:innen würden, wenn man sie vor die Wahl stellte, ob sie sich selbst in der Metapher des Gärtners oder Bildhauers wiederfinden, sich wohl intuitiv für den Gärtner entscheiden: Wir alle würden wohl mit Stolz von uns behaupten, im Unterricht zu individualisieren und zu personalisieren, die Lernprozesse der Schüler:innen zu „begleiten“ und sie bei Herausforderungen zu „coachen“. Wohl niemand würde von sich selbst behaupten, Schüler:innen als „formbare Masse“ zu betrachten.

    Zoomen wir aber weiter in den schulischen Alltag hinein, finden wir Klassenstärken von 30 Kindern und mehr, repetitive Stundenpläne, feste Zeitraster mit 45-Minuten-Einheiten, vorgegebene Curricula, terminierte Vergleichsarbeiten, Klassenarbeiten, standardisierte Leistungsmessungen, -beurteilungen und -bewertungen, Defizitbeschreibungen anhand zentral vorgegebener Lernstandserwartungen und vielem mehr.

    All das erinnert auf den ersten Blick recht wenig an Rousseaus Bildungsideal. Doch hat der heutige Zustand durchaus – wenn auch in dystopischer Art und Weise – etwas mit ihm gemeinsam: Unsere heutigen Schüler:innen sind durchaus Pflanzen und die Pädagogen Gärtner, doch eben nicht in freier Natur, sondern im Gewächshaus des heutigen Schulsystems.

    Quelle: pixabay.com

    Was das bedeutet liegt auf der Hand: Im Zuge zunehmender Ökonomisierungstendenzen (wir erinnern uns an die G8-/G9-Debatten) sollen die Schüler:innen immer schneller eine vorgegebene Norm erfüllen, um in das bestehende System integriert werden zu können. Und so lassen wir allen unseren Schüler:innen die gleiche Pflege zukommen, doch sind die Ansprüche bei 30 verschiedenen Kindern mit 30 verschiedenen Individualbiografien und Wachstumstendenzen eben verschieden. Und so wundert es nicht, dass sich eben nicht alle Schüler:innen durch die ihnen zugeführte identische Energie gleich entwickeln. In unserem Schulsystem werden „zu krumme Bananen“ genauso aussortiert wie „zu kleine Äpfel“ – wer nicht mitkommt muss die Jahrgangsstufe wiederholen oder gar die Schule verlassen.

    So wie das Wachstum von Pflanzen in Gewächshäusern eben nicht mehr dem natürlichen Biorhythmus folgt, so übergeht auch unser heutiges, vereinheitlichendes Schulsystem den individuellen Entwicklungsrhythmus unserer Kinder und fördert eine konforme und wenig innovative gesellschaftliche Monokultur.

    Schule als offenes und dynamisches System

    In einer Welt, die immer komplexer und dynamischer wird, bildet die Schule mit ihren festen Mustern zwar eine Schutzatmosphäre, doch schirmt sie die Schüler:innen auch von der Außenwelt ab. Was passiert aber mit Pflanzen, die eben nicht in der freien Natur gewachsen sind, sondern im Gewächshaus gezogen wurden? – Pflanzen im Gewächshaus sind oft empfindlicher, wenn sie ins Freie kommen – ebenso können Schüler:innen Schwierigkeiten haben, sich in der „Welt draußen“ zurechtzufinden, wenn Schule zu stark abgeschottet ist. Zu viel Kontrolle kann natürliche Vielfalt und Widerstandskraft unterdrücken – individuelle Lernwege, kreative Umwege oder „Wildwuchs“ werden möglicherweise nicht zugelassen.

    Sollten wir also nicht wegkommen von unseren „Gewächshaus-Schulen“, die auf Konformität und gesellschaftliche Verwertbarkeit, das heißt auf gesellschaftlich-kulturelle Monokulturen ausgerichtet sind? Sollten wir Schule nicht vielmehr als lebendiges, wachsendes, offenes und dynamisches System verstehen? „Beobachtet die Natur und folgt dem Weg, den sie euch vorzeichnet“, schreibt Rousseau in seinem Émile.

    Der Ansatz der Permakultur nach Bill Mollison und David Holmgren

    Eine Antwort darauf könnte der Ansatz der Permakultur sein. Permakultur ist ein nachhaltiges Gestaltungskonzept für Landwirtschaft, Gärten, Siedlungen und soziale Systeme. Der Begriff setzt sich aus „permanent“ und „agriculture“ (bzw. „culture“) zusammen und wurde in den 1970er Jahren von Bill Mollison und David Holmgren entwickelt. Ziel ist es, dauerhafte, resiliente und naturnahe Systeme zu schaffen, die sich selbst erhalten und regenerieren können.

    Im Zentrum der Permakultur stehen drei ethische Grundprinzipien:

    1. Teile Überschüsse und begrenze Konsum, das heißt: Ressourcen gerecht verteilen und Kreisläufe schließen
    2. Sorge für die Erde, das heißt: Erhaltung und Regeneration natürlicher Lebensgrundlagen
    3. Sorge für die Menschen, das heißt: Aufbau gerechter, kooperativer und gesunder Gemeinschaften

    Die zwölf permakulturellen Gestaltungsprinzipien und ihre Bedeutung für unser Bildungssystem

    Diese Ethik wird durch zwölf Gestaltungsprinzipien konkretisiert, die als Leitlinien für nachhaltiges Handeln dienen:

    Beobachte und interagiere:
    Nachhaltige Gestaltung beginnt mit achtsamer Beobachtung. Wer ein System verändern will, muss es zuerst verstehen. In der Permakultur wird nichts vorschnell geplant. Stattdessen wird geschaut: Was wächst hier bereits? Welche Beziehungen bestehen? Welche Bedürfnisse zeigen sich? Das heißt, dass Lehrkräfte und Schüler:innen Lernprozesse, Bedürfnisse und Interessen beobachten. Unterricht wird flexibel angepasst, statt starr geplant. Im Zentrum des Bildungsprozesses steht also keine extrinsische Vorgabe oder normierte Erwartung, sondern das intrinsische Entwicklungsziel der Schüler:innen. Lehrkräfte, die beobachten und zuhören, bevor sie eingreifen, schaffen tragfähige Beziehungen und wirksame Lernumgebungen.

    Fange Energie ein und speichere sie:
    In der Natur wird Energie nicht verschwendet – sie wird gesammelt, gespeichert und weitergegeben. In der Permakultur bedeutet das: Regenwasser auffangen, Sonnenlicht nutzen, Humus aufbauen. Übertragen auf das Bildungssystem heißt das, dass der Aufbau von Wissen, Fähigkeiten und sozialen Kompetenzen die „Energie“ unserer Zukunft ist. Dazu erkennen die Lehrkräfte die Lernmotivation und stärken und pflegen die Arbeit in sozialen Teams. Sie dokumentieren Wissen und machen es zugänglich. Somit wird die Schule ein Ort, an dem Ressourcen nicht versickern, sondern bewusst kultiviert werden.

    Erziele eine Ernte:
    Ein gutes System liefert nützliche Ergebnisse – nicht nur langfristig, sondern auch im Alltag. In der Permakultur ist das der Ertrag in Form von Nahrung, Lebensqualität oder Biodiversität. In der Schule kann der Ertrag vielfältig sein: Freude am Lernen, soziale Kompetenzen, Selbstwirksamkeit, Gemeinschaftsgefühl. Dieses Prinzip erinnert uns daran, dass Bildung nicht nur auf Prüfungen zielen darf, sondern auf das Leben selbst. Deswegen können sich die Erträge auch unterscheiden und sind trotzdem Teil einer gemeinsamen Wertschöpfung.

    Nutze Selbstregulierung und akzeptiere Feedback:
    Natürliche Systeme regulieren sich selbst – durch Rückkopplung, Anpassung und Lernen. Auch in der Schule ist Feedback von Schüler:innen, Kolleg:innen und Eltern zentral. Wer bereit ist, Fehler als Lernchancen zu sehen und Strukturen anzupassen, schafft eine Kultur der Entwicklung. Permakultur lehrt: Nicht Kontrolle, sondern Vertrauen in die Selbstregulation macht Systeme stark und den sich im schnellen Wandel befindlichen äußeren Bedingungen gegenüber resilient.

    Nutze und schätze erneuerbare Ressourcen:
    Permakultur bevorzugt das, was nachwächst, sich regeneriert und lokal verfügbar ist. In der Schule bedeutet das, dass man mit vorhandenen Talenten arbeiten, auf natürliche Rhythmen achten und Lernprozesse nicht überfrachten soll. Auch Zeit, Aufmerksamkeit und Beziehung sind erneuerbare Ressourcen, genauso wie Kreativität und Gemeinschaft – wenn man sie pflegt.

    Produziere keinen Abfall:
    In der Natur gibt es keinen Müll – alles wird wiederverwertet. Dieses Prinzip fordert uns auf, Kreisläufe zu denken. Fehler, Konflikte oder Umwege sind kein „Abfall“, sondern Rohstoff für Entwicklung. Eine Schule, die aus Erfahrungen lernt, ist wie ein Komposthaufen: fruchtbar. Deswegen wird jede Erfahrung, auch ein Fehler, als Lernchance genutzt.

    Gestalte vom Muster zum Detail: Permakultur beginnt mit dem großen Ganzen: dem Klima, dem Gelände, den Beziehungen. Erst dann folgen die Details. Auch in der Schulentwicklung ist es klug, zuerst die Kultur, die Vision und die Werte zu klären – bevor man Stundenpläne, Methoden oder Räume gestaltet. Wer vom Muster her denkt, schafft kohärente und tragfähige Strukturen.

    Integriere statt zu trennen:
    Vielfalt und Zusammenarbeit machen Systeme stabil. In der Permakultur werden Pflanzen so kombiniert, dass sie sich gegenseitig stärken. In der Schule bedeutet das, dass Teamarbeit, fächerübergreifendes Lernen und inklusive Pädagogik gefördert wird. Trennung – nach Fächern, Altersgruppen oder Leistungsniveaus – kann sinnvoll sein, fördert aber auch eine wenig widerstandsfähige Monokultur, während die Integration Verbindung und Resilienz schafft.

    Nutze kleine und langsame Lösungen:
    Große Veränderungen brauchen Zeit. Permakultur setzt auf kleine, lokale, angepasste Lösungen, die wachsen dürfen. Auch in der Schule sind es oft die unscheinbaren Veränderungen, die langfristig wirken: ein neues Ritual, ein verändertes Gesprächsklima, ein gemeinsames Projekt. Ein Organismus, der (zu) schnell wächst, läuft Gefahr, nicht die notwendigen Strukturen aufbauen zu können, um äußeren Einflüssen trotzen zu können. Daher ist Langsamkeit kein Mangel, sondern eine Qualität.

    Nutze und schätze Vielfalt:
    Vielfalt ist kein Problem, sondern eine Stärke. Unterschiedliche Perspektiven, Fähigkeiten und Lebensformen machen Systeme anpassungsfähig und kreativ. Für die Bildung bedeutet das, dass Heterogenität nicht nur toleriert, sondern aktiv genutzt wird – im Unterricht, im Kollegium, in der Schulkultur. Unterschiedliche Lern- und Lehrstile, Kulturen, Sprachen und Talente werden als Bereicherung gesehen – nicht als Problem. Die Heterogenität unserer Gesellschaft muss in Schule als einem der wesentlichen Sozialisierungsräume der Kinder abgebildet und gelebt werden. Nur so können Sie auf die Welt außerhalb der schulischen Schutzatmosphäre vorbereitet werden.

    Nutze Randzonen und Übergänge:
    In der Natur sind Übergänge besonders fruchtbar – etwa zwischen Wald und Wiese. Auch in der Schule entstehen an Schnittstellen oft die spannendsten Entwicklungen: zwischen Fächern, zwischen Altersgruppen, zwischen Schule und außerschulischen Partnern. Wer diese „Ränder“ bewusst gestaltet, zum Beispiel durch Projektarbeiten, Arbeitsgemeinschaften und die Integration von außerschulischen Lernorten, fördert Kreativität und Innovation.

    Reagiere kreativ auf Veränderung:
    Veränderung ist unvermeidlich – die Frage ist, wie wir ihr begegnen. Permakultur lädt dazu ein, Wandel nicht zu fürchten, sondern als Chance zu begreifen. In der Schule bedeutet das, dass man offenbleiben, flexibel denken und gemeinsam Lösungen entwickeln soll. Kreativität ist die wichtigste Ressource in einer Welt im Umbruch. Schulen werden zu lernenden Organisationen. Sie passen sich an gesellschaftliche, technologische und ökologische Veränderungen an – mit Mut und Kreativität.

    Die Lehrerrolle im Licht der Permakultur: Gärtner eines lebendigen Ökosystems

    In einer von der Idee der Permakultur inspirierten Bildungslandschaft erfährt die Rolle des Lehrers und Pädagogen als Gärtner eine vitalisierende Renaissance. Er ist nicht mehr primär Wissensvermittler oder Kontrolleur von Lernprozessen, sondern vielmehr Gestalter von Bedingungen, Beobachter von Entwicklung und Pflegender von Potenzialen – ganz wie ein Gärtner in einem vielfältigen, lebendigen Garten.

    Im Zentrum steht die Beziehung – zu den Schüler:innen, zur Gemeinschaft, zur Umwelt. Der Lehrer beobachtet aufmerksam, hört zu, erkennt individuelle Bedürfnisse und reagiert mit Feingefühl. Er vertraut auf die Selbstregulation der Lernenden und begleitet sie auf ihrem Weg, statt sie zu steuern. Wie in einem gesunden Garten ist Vielfalt kein Störfaktor, sondern ein Zeichen von Resilienz. Unterschiedliche Lernstile, Kulturen, Sprachen und Talente werden nicht nivelliert, sondern wertgeschätzt und integriert. Der Lehrer fördert diese Vielfalt aktiv – im Unterricht, in Projekten und in der Schulkultur. Fehler, Umwege und Konflikte sind kein Abfall, sondern wertvoller Humus für Entwicklung. Der Lehrer schafft eine Kultur, in der Erfahrungen reflektiert und genutzt werden – nicht bestraft. So entsteht ein fruchtbarer Boden für persönliches und gemeinschaftliches Wachstum.

    Damit ist es Aufgabe des Lehrers, die „klug geregelte Freiheit“ zu organisieren, in der sich die Schüler:innen ihren eigenen Bedürfnissen und Bestrebungen nach frei entwickeln können.

    Was sich Schule vom Ansatz der Permakultur abschauen kann: Schule als Kulturlandschaft

    Diese Sichtweise fordert auch ein neues Verständnis von Bildung: nicht als bloße Wissensvermittlung, sondern als kulturelle Praxis, die Menschen dazu befähigt, verantwortungsvoll, kreativ und gemeinschaftlich zu handeln. Der Lehrer als Gärtner ist dabei nicht der Mittelpunkt, sondern Teil eines größeren, lebendigen Systems.

    Wenn wir Schule als Kulturlandschaft begreifen, verändert sich unser Blick auf Bildung grundlegend. Inspiriert von der Permakultur, die lebendige, resiliente und nachhaltige Systeme gestaltet, ist Schule nicht länger mehr eine industrielle Denkfabrik, in der unsere Schüler:innen „er-zogen“ oder „geformt“ werden, sondern ein vielfältiger, dynamischer Lebensraum, in dem Menschen wachsen, sich entfalten und miteinander in Beziehung treten.

    Permakultur lehrt uns, in Zusammenhängen zu denken. Und so kann Schule davon lernen, Fächer, Menschen, Beziehungen, Räume und Rhythmen als ein zusammenhängendes System zu begreifen. Lernen wird in diesem Verständnis als natürlicher Prozess gesehen – wie das Wachsen einer Pflanze. Es braucht Zeit, Raum, Pflege und Vertrauen. Das könnte Schule zum Anlass nehmen, sich von der Vorstellung zu lösen, dass Lernen linear, standardisiert und kontrollierbar ist.

    Auch die Gestaltung der Lernräume spielt eine zentrale Rolle. In der Permakultur werden Landschaften bewusst angelegt – mit Wasserläufen, Windschutz und Sonnenausrichtung. Ebenso könnte Schule ihre Räume als pädagogische Landschaften verstehen: mit Gärten, Werkstätten, Rückzugsorten und offenen Lernzonen, die zum Entdecken, Forschen und Gestalten einladen.

    Ein weiterer zentraler Aspekt ist die Verantwortung. In einem permakulturellen System ist jeder Teil auch Mitgestalter. Schule kann davon lernen, Schüler:innen, Lehrkräfte und Eltern als aktive Mitverantwortliche zu sehen – nicht als bloße Konsumenten eines Bildungssystems – weil Lernen in Beziehungen, in Gemeinschaft, im Tun geschieht.

    Permakultur arbeitet in Kreisläufen – nichts geht verloren, alles wird weiterverwendet. So könnte auch Schule Wissen, Materialien und Erfahrungen in Kreisläufen denken: teilen, weitergeben, reflektieren. Fehler sind kein Abfall, sondern wertvoller Kompost für Entwicklung.

    Und schließlich: Permakultur strebt nicht nach Perfektion, sondern nach Resilienz. Auch Schule muss lernen, mit Unsicherheit, Wandel und Vielfalt umzugehen – nicht durch Kontrolle, sondern durch Vertrauen, Flexibilität und Kreativität. Denn die Herausforderungen der Zukunft – Klimawandel, soziale Gerechtigkeit, Digitalisierung – erfordern neue Formen des Denkens und Handelns. Schule als Kulturlandschaft bedeutet daher: Pflege statt Kontrolle, Wachstum statt Selektion, Beziehung statt Bewertung, Gemeinschaft statt Konkurrenz.

    Der Blick nach vorne

    schreibt Jean-Jacques Rousseau zu Beginn seines Werks „Emile oder Über die Erziehung„.

    Damit ist klar, dass der Lehrer als Gärtner nicht der Schöpfer der Pflanze, sondern der Hüter ihrer Bedingungen ist. In einer Zeit, in der Bildungssysteme unter dem Druck von Standardisierung, Effizienz und Vergleichbarkeit stehen, erinnert uns die Permakultur daran, dass Wachstum nicht gemacht, sondern ermöglicht wird.

    Wenn wir Schule als Kulturlandschaft verstehen, dann brauchen wir keine Architekten und Bildhauer, die starre Strukturen entwerfen, sondern Gärtnerinnen und Gärtner, die mit Geduld, Achtsamkeit und Vertrauen Räume für Entwicklung schaffen. Menschen, die beobachten, pflegen, begleiten – und wissen, dass jedes Kind seinen eigenen Rhythmus hat.

    Der Ruf nach einer Bildung, die sich an den Prinzipien der Permakultur orientiert, ist kein romantischer Rückzug ins Grüne. Er ist ein dringender Aufruf zur Transformation hin zu einer Schule, die eben nicht nur Wissen vermittelt, sondern resilientes Leben in einer hochmodernen und einem schnellen Wandel unterliegenden Welt ermöglicht: Eine Schule, die nicht nur auf Prüfungen vorbereitet, sondern auf eine Zukunft, die wir gemeinsam gestalten müssen.

    Wenn wir Bildung und Schule als ein lebendiges System begreifen, so öffnet sich unser Blick auf die darin befindlichen Menschen und wir erkennen, was sie sind: Teil eines großen, vielfältigen, lernenden Gartens.