Ein Tag „Unter Pflanzen“

Zu Gast im Museum Sinclair-Haus Bad Homburg

In dieser Woche durfte ich eine kleine Reise nach Bad Homburg unternehmen. Mein Ziel: Das Museum Sinclair-Haus der Stiftung Kunst und Natur. Idyllisch zwischen der neo-romanischen Erlöserkirche und dem Schloss Bad Homburg an der Ecke Löwengasse/Dorotheenstraße liegt das 1708 als Wohnhaus für den Regierungsrat Hessen-Homburgs, Geschichtsforscher und Entdecker des Römerkastells Saalburg Elias Neuhof (1724-1799) gebaute Ausstellungshaus. Vom Unternehmer Herbert Quandt 1978 vor dem Abriss gerettet und von der Altana AG erworben, wurde es aufwändig restauriert und schließlich nach Isaac von Sinclair (1755-1815), einem in Bad Homburg geboren und eng mit dem Dichter Friedrich Hölderlin (1770-1843) befreundeten Schriftsteller und Diplomaten, benannt. Seit 1982 widmet sich das Museum in wechselnden Ausstellungen inter-/nationaler Kunst des 20./21. Jahrhunderts zum Schwerpunktthema „Natur“. 2017 wurde das Museum Teil der seit 2021 unter dem Namen „Stiftung Kunst und Natur“ firmierenden Stiftung der Unternehmerin Susanne Klatten.

Am Morgen: auf Erkundungstour durch das Museum

Zu Beginn des Tages durfte ich mich alleine im leeren – weil für den Publikumsverkehr noch nicht geöffneten – Museum umschauen. Allein das war für mich ein besonderes Erlebnis. Die aktuelle Ausstellung heißt „Unter Pflanzen“. Sie lädt dazu ein, langsam zu werden, den Pflanzen zu begegnen, ihnen zu lauschen. Sie regt dazu an zu reflektieren, dass wir ständig unter Pflanzen sind: Wir essen sie, wir sehen sie, wie spüren sie, wir riechen sie – wir sind mit ihnen verbunden, und doch manchmal so entfremdet. Die ausgestellten Werke und Installationen zeigen Pflanzen als lebendige, wahrnehmende Wesen, die unzhlige Verbindungen eingehen: Manche Werke erforschen den Einfluss der Pflanzen auf menschliche Kulturen, andere entwerfen Pflanzen-Menschen-Hybride und erkunden, wie nah oder fern wir uns eigentlich sind. Bei der Ausstellung handelt es sich um eine Kooperation zwischen dem Museum Sinclair-Haus und dem von Yvonne Volkart geleiteten Forschungsprojekt „Plants_Intelligence. Learning Like a Plant“, das am Institut „Kunst Gender Natur“ der Hochschule für Gestaltung und Kunst Basel FHNW verortet und vom Schweizerischen Nationalfonds finaniziert ist.

Besonders beeindruckend finde ich die Darstellung der Amarant-Pflanze, an der ich lange stehen bleibe: Irgendwie kann ich mich nicht des Gedankens erwehren, dass sie der von Johann Wolfgang von Goethe beschriebenen „Urpflanze“ sehr ähnelt. Und sogleich kommt mir Goethes „Metamorphose der Pflanze“ in den Kopf – ein Text, der mich den Tag über und beim Schreiben dieses Blogbeitrags noch begleitet.

Erstellt mit KI
Quelle: Microsoft Copilot

Kristine Preuß, die Leiterin der Kunstvermittlung gab mir im Gespräch Einblicke in die Struktur des Hauses und die pädagogische Arbeit: Wir sprachen über die Struktur der Stiftung und wie sich der Wandel von der fördernden Altana-Stiftung hin zur operativen Stiftung Kunst und Natur auf die Vernetzung und Zusammenarbeit mit Schulen auswirkt. Konnten zuvor noch echte Patenschaften zwischen dem Museum und den umliegenden Grund- und weiterführenden Schulen gepflegt werden, konzentriert sich das Haus nun zunehmend auf die eigenen Angebote und hat weniger Möglichkeiten, langfristige schulische Bildungsprojekte zu begleiten.

Mit dieser strukturellen Veränderung ging auch eine strategische Neuausrichtung einher: Aus dem aufsuchenden Museum wurde zunehmend ein einladendes Haus.

Entsprechend veranstaltet das Museum neben den Wechselausstellungen auch Workshops für Kindergarten- und Schulkinder, Freiluftateliers, Führungen und Gesprächsrunden, philosophische Streifzüge, Lesungen, Tanzvorführungen, Rollenspiele, Kurse zum kreativen Gestalten und vieles mehr. Außerdem gibt das Museum zu jeder Ausstellung das hauseigene Ideenheft „Blattwerke“ heraus und produziert den Podcast „Art’n’Vielfat – Der Podcast für Kunst und Natur“.  Für so ein kleines Haus mit nur wenigen Mitarbeitenden empfinde ich das Angebot als breit und divers und im stetigen Wandel stehend: eben so, wie die Hauptakteure des Museums, die Pflanzen, selbst. Dabei schottet sich das Museum durch seine Vermittlungsabteilung aber nicht von seiner Außenwelt ab: Vielmehr agiert es kreativ in dem Spannungsfeld zwischen einladend und aufsuchend, indem es zwar eigene Formate entwickelt, konzipiert und realisiert. Genauso gehen die Mitarbeiter:innen aber – im konkreten Fall dieses Workshoptages – in das Wohnheim der Kinder, bewirbt das Angebot dort und holt sie dort auch ab – um sie zu sich ins Museum zu führen.

Aufsuchend bedeutet im Bereich der Kulturellen Bildung, dass Bildungs- und Kulturinstitutionen aktiv auf Menschen zugehen – insbesondere auf solche, die sonst schwer Zugang zu kulturellen Angeboten finden. Dies kann durch mobile Formate, Kooperationen mit Schulen, sozialen Einrichtungen oder durch Projekte im öffentlichen Raum geschehen. Ziel ist es, Teilhabe zu ermöglichen und Schwellen abzubauen.

Einladend beschreibt eine Haltung und Gestaltung kultureller Bildungsangebote, die Menschen ermutigt, freiwillig teilzunehmen. Dies zeigt sich z. B. in einer offenen Atmosphäre, barrierearmen Zugängen, diversitätssensibler Kommunikation und partizipativen Methoden. Einladende Angebote schaffen Räume, in denen sich Menschen willkommen, gesehen und angesprochen fühlen.

Am Mittag: ästhetische Erfahrungen zwischen Kunst und Natur – drei Workshops für eine Gruppe geflüchteter Kinder

Am Mittag wurde Kristine Preuß von ihrer Mitarbeitern Ann-Cathrin Agethen und einer weiteren freien Mitarbeiterin bei der Durchführung dreier Workshops für eine Gruppe geflüchteter Kinder unterstütz. Insgesamt durften die Kinder in drei Formaten ästhetische Erfahrungen zum Thema Natur machen, indem sie sich der Natur ganz spielerisch und kreativ-bildend durch Anähnelung, Verarbeitung und Erschaffung genähert haben.

Workshop #1: Reproduktion der Natur als Kunst – Blätter aus Ton

Bei diesem Workshop durften die Kinder Blätter in ihren verschiedenen Formen erkunden, indem sie sie mit Ton nachgebildet haben. Am Ende sollte dadurch in kooperativer Weise ein Mobile entstehen, das die Kinder in ihre Flüchtlingsunterkunft mitnehmen durften. Es war toll, die Kinder dabei zu beobachten, wie akribisch sie versuchten, die Natur nachzubilden. Und zugleich war es ergreifend, als eines der Kinder sagte, dass man es irgendwie nicht so perfekt wie die Natur hinbekomme.

Mir stellte sich dann sofort die Frage, ob das unser Anspruch sein soll und kann: die Natur perfekt ab- und nachbilden? In der Ausstellung ging es ja auch nicht (immer) darum, die Natur perfekt wiederzugeben. Der künstlerische Umgang ermöglicht ja gerade, von vorgegebenen Mustern abzuweichen, eigene Schwerpunkte zu setzen und auch zu verfremden, um die eigene Perspektive zu verdeutlichen. Gerade darin besteht doch das große Potenzial künstlerischer Forschung: den subjektiven Eindruck zum Ausdruck zu machen. Vielleicht ist die ästhetische Forschung hier dem künstlerischen Impressionismus sehr nahe?

Ein anderes Kind sagte übrigens dazu, dass sie das auch gar nicht perfekt machen müssten – sie seien ja schließlich Kinder. Auch dieser Satz hat mich nachdenken lassen, denn warum muss man denn nur als Kind nicht perfekt sein? Ich wünsche mir, das auch als Erwachsener nicht sein zu müssen – und doch spürt man in der sich stetig ökonomisierenden Welt, dass Funktionalität (und das heißt nichts anderes als systemische Perfektion) zu einem gesellschaftlichen Anspruch geworden ist. Dabei sind es doch gerade die unperfekten Dinge, die uns im Leben zum Lachen, Weinen, Staunen und Nachdenken – schlicht zum Denken – bringen.

Wir sollten versuchen, das Unperfekte, das Besondere wieder zuzulassen. So kommen wir wieder ins Staunen. So gelingt es uns wieder, uns mit uns selbst, den Menschen und der Natur zu vernetzen.

Beschwingt und mit einem großen Grinsen verlasse ich den Raum, als ich sehe, dass ein Junge lieber eine Pizza statt eines Blattes aus dem Ton geformt hat: Hier hat sich jemand über gesellschaftliche Vorgaben hinweggesetzt und in seiner eigenen Freiheit dem nachgespürt, was ihn gerade jetzt beschäftigt.

aus:
Johann Wolfgang von Goethe: Die Metamorphose der Pflanzen

Workshop #2: Kreation mit Natur als Kunst – Gemälde aus Pflanzenfarben

Im zweiten Workshop durften die Kinder aus selbst hergestellten Pflanzenfarben Gemälde anfertigen. Dazu wurden Blüten, Samen, Beeren, Früchte, Pulver und vieles mehr in Wasser, Laugen und Kleister aufgelöst. Sogar Rindenschnitzel wurden ausgekocht. Beeindruckend war, wie kräftig so manche Farbe war.

Mir kam sofort die Idee, das mit dem Deutschunterricht zu verknüpfen: Welch schöner und ganzheitlicher Zugang wäre es, diese Art der Verarbeitung der Pflanze in Form von kleinen Gedichten zu versprachlichen und so schöne lyrische Schmuckblätter zu produzieren. Die Pflanze, die inhaltlich im Fokus steht, könnte sowohl sprachlich als auch gestalterisch erforscht werden. Ja selbst der Prozess der Farbherstellung könnte dichterisch verarbeitet werden: Warum färben Blaubeeren so viel kräftiger als Lindenrinde? Oder warum benötigt Lindenrinde, um ihre Kraft zu entfalten, von außen zugesetzter Energie in Form von heißem Wasser? Was haben die Pflanzen bereits erlebt, das sie nun freigeben?

Womit ich gar nicht gerechnet habe ist, dass durch die Verwendung von Pflanzenfarben nicht nur visuelle, sondern auch olfaktorische Gemälde entstanden sind: Bislang habe ich noch nie an einem Bild gerochen. Doch diese Bilder können riechen. Die Kinder haben etwas geschafft, über das ich zuvor noch nie nachgedacht habe: echte synästhetische Kunst.

Und zugleich wird mir bewusst, dass diese Kunst auch sehr vergänglich sein wird, denn ohne Konservierungsstoffe werden diese Bilder mit der Zeit verbleichen und vielleicht sogar anfangen zu faulen. Aber auch das scheint mir eine befreiende Gegenbewegung zur konservatorischen Behandlung unserer „hochkulturellen“ Kunst zu sein: Gehen und vergehen ist das Natürlichste auf der Welt – es ist der Kreislauf des Lebens. Und doch halten wir Menschen gerne an dem fest, was uns etwas bedeutet. Wir lassen es nicht los, weil wir es bewahren wollen.

aus:
Johann Wolfgang von Goethe: Die Metamorphose der Pflanzen

Workshop #3: Produktion von Natur als Kunst – Pflanzen einer Sonnenblume

Der letzte Workshop bestand darin, die Ausstellung zu erkunden und in die Welt der Pflanzen – und dem, was unter ihnen ist und wir für gewöhnlich nicht sehen – zu erkunden. Anschließend haben die Kinder zusammen Sonnenblumen gepflanzt. Eigentlich ist das ja keine schwierige Angelegenheit, einen Samen in die Erde zu stecken und vorsichtig anzugießen. Doch glaube ich, mehr als das gesehen zu haben: Spannend waren dabei nämlich die Gespräche zwischen den Kindern, die wieder aus unserem Muster ausbrachen und die Sonnenblumenkerne aßen. Das Bild, das sich ergeben hat, empfand ich selbst als sehr poetisch: Zwar sind die Samen zunächst in isolierten Pflanzschalen, um in einem geschützten Raum keimen zu können. Doch sehr bald werden sie gemeinsam eingepflanzt werden können. Und so wird aus zarten Einzelgängern mit viele Liebe und Pflege später mal eine starke Gemeinschaft werden.

aus:
Johann Wolfgang von Goethe: Die Metamorphose der Pflanzen

Inspiriert von der Natur, der wohl größten Gemeinschaft unserer Welt, fanden diese Kinder zu sich und tauschten sich aus. Sie waren unter sich – und „Unter Pflanzen“.

Am Nachmittag: raus in die Natur! – das Freiluftatelier vor dem Bad Homburger Bahnhof

Am Nachmittag besuchte ich das Freiluftatelier des Museums am Bad Homburger Bahnhof. Das Freiluftatelier ist eine Aktion des Museums, die von Mai bis September jeden Mittwoch von 15-18 Uhr am Bahnhof in Bad Homburg zu finden ist. Dort bieten zwei bis drei freiberufliche Künstler:innen Bastelworkshops zu verschiedenen Themen an: Farbe aus Pflanzen herstellen und damit malen, zeichnen oder färben, Fantasiepflanzen bauen und drucken, Pflanzenkostüme entwerfen, grüne Städte erdenken, von Pflanzenträumen schreiben, mit dem Sonnenlicht fotografieren und andere Experimente.

Nicht zu verfehlen war zwischen zwei gelben Flaggen eine Bierzeltgarnitur und mehrere kleine Tische und Stühle aufgebaut. Darauf lagen alle möglichen Bastel- und Naturmaterialien.

Ab 15 Uhr kamen Kinder mit ihren Eltern vorbei, und bastelten dort das, worauf sie gerade Lust hatten: Entstanden sind Collagen aus Blättern, Zauberstäbe, Haarspangen und „Fascinator“.

Ich empfand es als unglaublich befriedigend, den Kindern und Jugendlichen dabei zuzuschauen, wie sie aus den Naturmaterialien die fantasievollsten Gegenstände gestalteten.

Was bleibt von diesem Tag?

Ich fand diesen Tag unglaublich beeindruckend. Ich habe so vieles gesehen und gehört, das mich auch noch Tage danach begleitet und beschäftigt. Was genau mir von diesem Tag bleibt, vermag ich heute noch nicht zu sagen. Vielleicht muss ich das aber auch nicht: Vielleicht ist es gut, wenn meine Gedanken noch ein wenig als lose Fäden in meinem Netz umherwandern und ich ihnen jene Freiheit erlaube, die ich an diesem besonderen Tag bei den Kindern mit Freude beobachtet habe.

Wie schön wäre es, wenn Kinder in Schule und Unterricht genau so unbefangen und frei lernen könnten, wie diese Gruppe es nun erleben durfte.

Wie schön wäre es, wenn wir uns mehr an der Natur und ihrer Entwicklung orientieren würden und den Kindern ermöglichten, sich wie ein Blatt zu entfalten.

Für uns als Lehrkräfte bedeutet das aber auch eine veränderte Rolle und Aufgabe.

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